Für ein Lied und hundert Lieder
legen und die Wellen sich beruhigen würden, da hatte der Bucklige einen Schock.
Daraufhin kam die ganze Meute aus den Betten, nahm sich an Lei Feng, Maos Mustersoldaten, ein Beispiel und brachte den Alten, der grünlich-schwarz im Gesicht war, zum Krankenhaus. Nach drei Tagen durfte er es wieder verlassen und kam zur Brigade und zum Trainingscamp zurück. Ich habe mit dem Alten kein einziges Wort gewechselt, aber bis heute sehe ich vor mir, wie er aussah, als er krank wurde: Sein Mund stand weit offen wie eine unermesslich tiefe Höhle – das war wirklich das Gefängnis aus meinen Träumen, ich kroch durch stinkenden Speichel, umgeben von den Gebissen von Ziegelsteinen.
Eines Tages kam von oben der Bescheid, es werde eine Gefangenenvollversammlung abgehalten. Die Gruppenführer wiesen mich an, mich um den alten Straußenbuckel zu kümmern. Also packte ich ihn an einem klaren Herbsttag unter den Armen und zerrte ihn zum Versammlungsplatz. Die Militärpolizei war längst angetreten und wartete in dichtgeschlossenen Reihen. Alle drei Schritte eine Wache, alle fünf Schritte ein Posten; der gesellschaftliche Abschaum aus allen Wohnbezirken des Knastes war hier in Reih und Glied angetreten, ununterbrochen bahnte sich der Strom seinen Weg durch einen Wald von Gewehrspitzen. Über allem ging die Sonne auf wie eine Kriegstrommel und pflanzte sich auf der Mauer auf, vor der Motorräder hin und her fuhren, ein sehr imposanter Anblick.
Ich verlor mich mit meinem buckligen Alten in der Staubschleppe, den die gewaltige Gefangenenarmee hinter sich herzog, und wurde von zwei Bajonetten geleitet und vorangetrieben. Die große Versammlung hatte bereits begonnen, der Platz sah aus wie ein Theater, von Lampen hell erleuchtet, aber ein noch stärkeres Licht konzentrierte sich auf die Bühne, wo zwei Reihen von ganz verlorenen Bürokraten einer schwarzen, unförmigen Masse von Feinden gegenüberstanden. Und das Staatswappen, das über der Bühne thronte, strahlte nach allen Seiten wie ein Wahrspiegel zum Erkennen von Dämonen, direkt der an allen Seiten verborgenen bewaffneten Polizei und den Maschinengewehren gegenüber.
»Das Ganze stillgestanden!«, brüllte der Vorsitzende der Veranstaltung und bewegte ein Megaphon in den Fingern. Über den ganzen Platz rollte ein gewaltiges Donnern. Dann sangen wir alle zusammen das Lied »Ohne KP kein neues China«, allen standen die Augen vor dem Kopf wie Bronzebimmeln, alle rissen mit Gewalt das Maul auf, so weit es ging, auch ich musste das Maul aufreißen, um mich so mit Lärm gegen diesen beispiellosen Lärm zur Wehr zu setzen.
Meine rechte Hand steckte noch unter der Achsel des Buckligen, mit jedem Satz, den ich brüllte, hob ich meinen Körper ganz unwillkürlich ein wenig weiter in die Höhe, als ob in der Leere über mir etwas an mir ziehen würde wie an einem Rettich. Der Alte hielt mit mir Schritt, Ein- und Auspressen der Luft, die Augen vor den Kopf geschrien.
»Ich würde den Kerl am liebsten erwürgen«, dachte ich. Doch ich sang: »Die KP führt China ins Licht.«
Als die Meute sich abreagiert hatte, war es mucksmäuschenstill. Der Gefängnisdirektor ergriff das Wort, und mein Buckliger fing doch tatsächlich an, gleichzeitig Selbstgespräche zu führen. Die Worte des Gefängnisdirektors drehten sich ewig um die Auszeichnung von Aktivisten im Umerziehungslager, um die Unmöglichkeit einer Flucht und die Sinnlosigkeit von Beschwerden. Der Alte neben mir brabbelte mit gesenktem Kopf vor sich hin: »Wer will denn hier fliehen, im Gefängnis ist es allemal besser als im Altersheim. Im Altersheim muss man noch selbst die Geldbörse zücken.«
Eine lange Reihe von eng aneinandergefesselten Gefangenen, die geflohen waren, wurden einzeln vor die Bühne gestellt, zwei bewaffnete Polizisten nahmen je einen Gefangenen in die Mitte, bei der geringsten Bewegung schlugen sie ihm die Ellbogen in die Rippen. In klarem Kontrast dazu standen die Aktivisten, die im Gänsemarsch auf die Bühne kamen, um dort ein Statement abzugeben. Ihnen wurde auf dieser Versammlung vor aller Augen eine Strafminderung von bis zu zwei Jahren zugesagt, weshalb ihre Klassenkritik auch entsprechend robust ausfiel. Der Mund des Buckligen neben mir bewegte sich immer emsiger, die Emotionen vor und auf der Bühne schlugen hoch, und mir wurde allmählich bewusst, dass es unter meinen Füßen noch ein Gefängnis innerhalb des Gefängnisses gab, das waren wahrscheinlich während der Kulturrevolution
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