Für ein Lied und hundert Lieder
ausgeschachtete Luftschutzbunker, in denen man das ganze Jahr über die Sonne nicht sah, Grüfte, eigens für Ausbrecher und andere schwere Regelverstöße bereitgestellte Grüfte, zwei Meter lang und einen Meter hoch, in denen ein Mensch, wenn man ihn einmal da hineingesteckt hatte, nur noch sitzen und auf Rücken oder Bauch liegen konnte, wie ein Tier, eine Gruft, in der er essen, trinken und seine Notdurft verrichten musste. Das Resultat einer derart langfristigen Einkerkerung war, dass Angehörige der gelben Rasse allmählich zu Weißen mutierten, dass ihre Knochen brüchig wurden, ihr Bart und Haar wie Reif und ihre Haut so hell und durchscheinend wurde, dass man ihre Adern und Eingeweide sehen konnte. Einige der Beamten der Justiz drohten uns unverhohlen: »Wer es wagt, das Gesetz herauszufordern, wird zu einem Paradebeispiel eines Gegners der Umerziehung durch Arbeit gemacht, die Regierung steckt ihn in einen kleinen Raum, da ist sie nicht zimperlich. Da drin kannst du dich dann umbringen, du kannst Fluchttunnel buddeln, das schert niemanden. Und selbst wenn einer aus Eisen wäre, auch er würde überquellen von Grünspan und Rost.«
»Wenn man eingegraben ist bis ans Kinn, was scheren einen da noch Schimmel und Rost?«, murmelte der Alte neben mir, »ich habe zwei Jahre in so einem Loch gehockt, die Härchen auf meinen Armen waren länger als mein Bart, wenn ich auch nur einen Schritt ging, brach mir das Kreuz.«
»Anderthalb Jahre kann man sich widersetzen, aber drei, fünf Jahre, das ist nutzlos«, sagte der Politkommissar Huang geradeheraus und nippte an seinem Tee, »der berühmte Gegner der Umerziehung durch Arbeit, der Name tut hier nichts zur Sache, aber er war der Beste, ist zweimal ausgebrochen und wurde jedes Mal wieder gefasst, das hat ihm sechs weitere Jahre eingebracht, die er in so einen kleinen Raum gesperrt war. Am Anfang hat er in der Dunkelheit mehrfach den Tod gesucht, dann ist er stiller geworden. Die ersten beiden Jahre bin ich noch zu ihm in seine Höhle hinabgestiegen, er war bockig und hat keinen Ton gesagt, aber als der dritte Frühling vor der Tür stand, ist er auf allen vieren vor mir herumgekrochen, hat Kotau gemacht und um Vergebung gefleht. Der Kerl war fünf Jahre und sieben Monate in diesem Loch, er war ein lebendiges Gespenst und auf beiden Augen blind. Am Ende ergriff er die Gelegenheit, klammerte sich durch das Gitter an meine Beine und hat nicht mehr losgelassen. Aus humanitären Gründen habe ich ihm dann erlaubt, von den Toten aufzuerstehen und in das Licht der Sonne zurückzukehren.«
»Ich war mit ihm in einer Gruppe«, brabbelte der Alte, »seine Muskeln waren verkümmert, kaum in der Sonne, ist er auf die Knie gefallen und nie wieder aufgestanden.«
»Das war eine triumphale Vollversammlung«, verkündete der Vorsitzende, »wenn die Brigaden zurück sind, sollen sich Diskussionsgruppen bilden, jeder soll zu Wort kommen.«
»Gut, kommen wir zu Wort«, schloss sich der Alte unkritisch an und hielt sich sofort gewaltsam an mir fest. Durch die Meute lief eine Tsunamiwelle, sie fing vorne an und verließ Reihe um Reihe den Platz. Der Alte hustete so heftig, dass sich seine Augen verdrehten und das Weiße sichtbar wurde.
»Musst du ins Krankenhaus?«, fragte ich besorgt.
»Eher in die Totenhalle«, sagte er und schnaufte wie ein Ochse. In der gleichen Nacht noch wurde der Alte, der zum zweiten Mal wegen Drogenhandels in den Kahn eingefahren war, krank. Wie es hieß, ist er drei Tage später im Gefängniskrankenhaus gestorben.
Das letzte Mal hatte ich den Stift Ende 1997 zugemacht, sehr überhastet. Als ich heiratete und umzog, hatte ich in diesem winzigen Zimmer mit seinen paar Quadratmetern in Baiguolin ganze fünf Jahre verbracht, und davon abgesehen, dass ich in alle Richtungen nach Geld Ausschau hielt, um mein Leben zu fristen, habe ich mich in meinem Wahn, Zeugnis ablegen zu müssen, auf mein Bett gekauert und geschrieben, geschrieben, geschrieben. Manchmal 1000 Zeichen am Stück, manches Mal 500, machmal nur eine Handvoll, meine Schläfen und mein Oberlippenbart wurden weiß, ich habe es gar nicht gemerkt. Ich habe zigmal kopiert, was Solschenizyn auf den ersten Band seines »Archipel Gulag« geschrieben hat: »In den letzten Jahren lag es nicht mehr wie eine Last auf meinem Herzen, dieses längst fertige Buch zum Druck zu bringen, die Verantwortung den Lebenden gegenüber überstieg bei weitem die gegenüber den Toten. Aber jetzt, wo die
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