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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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alle Namen aufgerufen hatte, hackte er jäh einem kleinen Gauner, der zu spät geantwortet hatte, mit der Handkante unter die Achsel, wofür ihm sein Herrchen ein besonderes Lob aussprach. Daraufhin wurde dieser Mensch noch wilder, es waren noch keine drei Tage ins Land gegangen, schon hieß er im ganzen Knast nur noch »Eisenhand«.
    Ich stellte mich krank und trat in einen Bummelstreik, wurde von der Eisenhand vor die Zelle zitiert, und als der Elektroknüppel keine Wirkung zeigte, krempelte er die Ärmel hoch und verpasste mir fünf Ohrfeigen. Ausgerechnet in diesem Augenblick kam mein alter Feind, Regierung Bai, des Wegs, hob im Vorbeigehen ein Bein und trat mir in die Rippen. Ich hätte nicht erwartet, dass dieses fette Schwein mit seiner breiten Visage und seinen großen Ohren so eine Geschicklichkeit an den Tag legen könnte! Ich unterdrückte den heftigen Schmerz, stemmte mich vom Boden hoch, und wir starrten einander wütend in die Augen.
    Der Fettsack hob noch ein paarmal das Bein, ich wich aus, das Schwein verlor das Gesicht und fing an herumzukrakeelen: »099, dein altes Leiden, das ist wieder dein altes Leiden!«
    Eisenhand trat hervor, bat den Vorgesetzen Bai zur Seite und lächelte grausam dabei: »Lass mich diesen berühmten Knasttyrannen bedienen!«
    Unzählige Handflächen prasselten auf mich ein. Ich stand da, aufrecht wie ein Lineal, wie ein in den Boden gerammter Holzpflock. Und mein Blick war genauso kerzengerade wie mein Körper, er sprühte Funken und versuchte, im Gesicht meines Gegenübers Wurzeln zu schlagen. Nein, das war schon kein Gesicht mehr, das war das Maul eines Löwen oder haarige Klauen und Zähne, er brüllte in alle Himmelsrichtungen: »Du wagst es und hasst deinen Wachhabenden!«
    Der Fettsack stand neben ihm und hetzte ihn auf: »Der ist nicht aus Fleisch, der ist aus Eisen, letztes Jahr habe ich ihm dreiundzwanzig Ohrfeigen verpasst, der hat nicht mal mit der Wimper gezuckt.«
    Die Eisenhand führte einen regelrechten Veitstanz auf und schrie etwas herum von ich und hassen und er werde mir die Augen herausreißen.
    Ich starrte ihn nur an und zuckte wirklich mit keiner Wimper, ich wollte mit meinen Augen die Augen des Schlächters packen, ich wollte ihn in mein Blut und in meine Knochen hineinziehen. Bei einem Literaten geht es nicht Zahn um Zahn, das kann er nicht, aber er kann durch die Magie der Worte eine Gesellschaft verfluchen, die solche Henker hervorbringt.
    Meine Poren waren weit geöffnet, mein ganzes Gesicht war nur noch Mund, mein ganzes Gesicht kaute an meinem eigenen Gebiss. Ich konnte nichts mehr genau unterscheiden, aber ich starrte ihm immer noch konzentriert ins Gesicht. Und wenn ich hier auf der Stelle erblindete, wenn ich hier umkam, ich würde ihn weiter anstarren. Ich wollte mit meiner Seele einen solchen Schlächter angreifen, wie lange hatte meine Seele schon im Kerker meines Körpers gesessen? In diesem Augenblick legte die Seele mir das pochende Herz in die Hand, sie versuchte, über die explodierenden Augenhöhlen diesen Kiesel herauszuwerfen!
    »Hasst du mich immer noch? Verdammte Scheiße, das hat wirklich keinen Sinn.«
    Die Ohrfeigen wurden langsamer, wenn sie meine Schläfen trafen, sank ein dumpfes Krachen in mich hinein, der Sturm, der das Meer aufgewirbelt hatte, hatte sich schließlich in weiches Fleisch verwandelt und in den Kuss dieses weichen Fleisches. Ich schien von den Wolken her einen entmutigten Seufzer zu hören: »Was ist denn mit dem Kerl los? Weiß der Teufel.«
    Die Eisenhand wies ein Rotfell an, konzentrierten Alkohol herbeizuschaffen und ihm die Hände zu waschen und zu desinfizieren; ich tastete mich taumelnd nach vorne. Jemand rief: »Die Zelle ist hier!« Ich machte eine Drehung um neunzig Grad in die Richtung, aus der die Stimme kam, und rundherum brach ein brüllendes Gelächter los.
    Wie ein Blindenhund führte mich eine warme Hand in die Zelle zurück. Am nächsten Tag verwandelte sich diese Hand in einen Intellektuellen, er war gerade als Wachhabender unserer Zelle unter die Obhut von unserem Zwerg Li gestellt worden, er hieß Xiao Cao.
    Xiao Cao war an der Uni ein Dichter gewesen, und er hatte etwas für politische Gefangene übrig.
    »Ich war bei der Studentenrevolte auch dabei«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Nachher kramte er aus seinem Reisekoffer in einer Ecke einen Gedichtband heraus: »Ich habe viele Ihrer Gedichte gelesen, sie sind sehr ungewöhnlich. Wenn ich Sie mit den Bildern von Ihnen in der

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