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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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geworden, wenn man den Nachttisch nur leicht bewegte, hatte man nur noch die Einzelteile in Händen. Draußen im Tageslicht waren dann in dem feinen Staub die Eier zu sehen, es sah aus, als habe jemand Salz auf Lockbriketts gestreut. Song Yu war eine junge Frau von angenehmem Äußeren und von einer bis zur Stumpfheit gehenden Kühnheit. Sie wollte die Brut sofort ausräuchern, gleichzeitig machte sie sich Sorgen, die Ameisen könnten bereits die Beine des Bettes zerfressen haben: »Für den Fall, dass heute Abend das Bett zusammenkracht, müssen wir auf dem Boden schlafen.«
    Vergangenes ist wie Rauch. Jetzt ziehe ich an meiner Kippe, krieche auf dem Papier langsam zurück in das von den weißen Ameisen ausgehöhlte Zimmer, Feifei und ihre Möbel sind längst nur noch Wolken, die am Horizont vorüberziehen.
     
    Das Gefängnis versinkt, dieses gewaltige Schiff, auf die Helligkeit des Tages wirft es keine Schatten, nur in den Nächten taucht es langsam aus dem Weiß der Wand auf und wiederholt den Vorgang seines Untergangs. Ich pendele mit beiden Armen, fliehe ins Wasser, habe Krämpfe in beiden Beinen, aber ich kann den dunklen Schatten des versinkenden Schiffes nicht abschütteln. Wo bin ich? Ich erinnere mich, ich habe meine Strafe abgesessen, ich bin entlassen worden, aber immer ist da eine Stimme, die mich warnt, du bist noch nicht entlassen, die Wände weichen nach hinten zurück, Liao Yiwu, lauf, lauf, du bekommst keine Luft, nicht? Das Herz ist erschöpft, verdammt.
    Song Yu liegt mir in den Ohren, ich solle ins Krankenhaus gehen, mich durchchecken lassen, in der Umarmung der eisgekühlten Geräte mich selbst kennenlernen. Mit welchem Recht? Ist mein Gesicht so rosig? Der Teufel weiß, ich träume sogar, dass ich zum Tode verurteilt werde, ein riesiges Gehirn hängt von der Zimmerdecke herunter und verkündet: In zwei Stunden wird er weggeschafft und hingerichtet! Ich bin starr vor Schreck, schlage mit dem Kopf gegen die Wand, Resultat, die Wand verwandelt sich, ich rase über feinen Staub, eine Bergstraße, ich ziehe Fesseln hinter mir her, die Fesseln eines Todeskandidaten, ich erinnere mich an die Bezeichnung für meine Straftat, ich habe meine Mutter mit 17 Messerstichen getötet, ein solches Verbrechen kann nicht begnadigt werden. Selbst die Berge tragen Polizeiuniformen, ich schreie: »Auto! Auto!« Prompt hält ein Wagen quietschend vor mir, ich merke, dass ich an einem fremden Ort bin.
    Ich habe kein Geld, muss aber noch über viele Straßen fliehen, ich suche überall etwas gegen den Hunger, da sehe ich einen Stand, man verkauft Erbsfladen, ich sage fünf Pfund, der Standbesitzer sieht mich erstaunt an. Ich will diese Speise meiner Kindheit mitnehmen, mitnehmen in den entlegensten Winkel meiner Verzweiflung. Der Wagen! Der Wagen? Der Wagen ist weggefahren. Scheiß Fahrer!
    Ich weine. Wische die Tränen weg, ich bin noch im Knast. Die Lederpeitschen der Henker knallen, ich kann mich nicht rühren, fast hätte ich mir in die Hose gemacht, ich verlasse das Bett, gehe zur Toilette, draußen ist es noch dunkel.
    Eines Tages während der Hundstage im Sommer 2000 kommt Besuch, Professor Kang Zhengguo von der Universität Yale, ich lade ihn auf einen Tee ein, an einem stinkenden Wassergraben an der Sandong-Brücke, wir wollen über Freiheit reden. Kang sagt: »Freiheit ist kein Traum. Bevor ich das Land verlassen habe, habe ich immer geträumt, ich würde verhaftet werden, auf der Straße, zu Hause, in einem Felsspalt, sogar auf der Toilette, in einer Müllgrube. Sobald ein dunkler Gedanke bei mir aufkommt, merken es die anderen sofort. Und im Augenblick ist vor dem Fenster meiner Wohnung ein freies Feld, Ödland, ein Gewirr von verwitterten Bäumen, und weil es fault, wachsen Pilze, auch ein kleiner Bach ist dort, und Blätter wirbeln herum, und wenn man da für eine Weile zuschaut, lässt es einen ganz sorglos einschlafen. Ich habe schon seit Jahren nicht mehr geträumt.«
     
    Das Folgende geschah am Vorabend des Nationalfeiertages [56] 1992, die Meute war mit dem sozialistischen Arbeitswettbewerb beschäftigt, ein Nachtkampf bei Lampenschein, sie falteten Papiertüten für ein »Fieber- und Schmerzpulver« und »Kleinkindruh«. Auf dem Höhepunkt der Bemühungen brach ein Vergewaltiger den Guiness-Rekord des Gefängnisses und faltete an einem Tag 9000 Stück. Beim Essen verrührte der Kerl das Zeug in seiner Schale ohne Unterbrechung, trocknete es auf der Betonterrasse und arbeitete weiter. Als es ein

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