Für ein Lied und hundert Lieder
Sicherheitsorgane das Manuskript ohnehin bereits beschlagnahmt haben, habe ich keine andere Wahl, als es sofort zu veröffentlichen.«
Wo sollte ich mein Buch veröffentlichen? Als ich gerade aus dem Gefängnis gekommen war, hatte ich eine große Anzahl von Manuskripten aus dem Gefängnis, die unter Lebensgefahr hinausgeschmuggelt worden waren (einschließlich des ersten Kapitels von »Überleben«), alten Bekannten ins Ausland mitgegeben, Leute, von denen ich ausnahmslos nie wieder etwas gehört habe. In Briefen habe ich meine Mitangeklagten und Michael Day um Hilfe gebeten und ihnen von meinen schriftstellerischen Plänen erzählt, Michael hat mir gut 400 kanadische Dollar zukommen lassen: »Ich kann dir nicht mehr geben«, sagte er, »in der gegenwärtigen Weltlage haben die westlichen Regierungen alle Hände voll zu tun, mit den chinesischen Kommunisten Geschäfte zu machen und zu feilschen; das Hauptinteresse der Medien liegt auf verhafteten und freigelassenen Personen, die dann ausgeschlachtet werden wie irgendwelche Filmsternchen. Bei der Neuausrichtung der internationalen Strukturen nach dem Kalten Krieg geht es den Tyrannen dieser Welt ausgezeichnet. Wer kann wem etwas anhaben? Jemand wie du, ein Dichter, hat keine andere Hoffnung, als an seiner eigenen inneren Wahrheit festzuhalten, nicht zu jammern, aber auch keine Lügen zu erzählen.«
Ich habe nie auf ein Wunder gewartet. Im Vergleich zu Solschenizyn war ich nur eine unbedeutende Person ohne den geringsten Hintergrund. Angesichts der ständigen Hausdurchsuchungen blieb mir nichts, als das, was ich geschrieben hatte, möglichst oft zu vervielfältigen und es an verschiedenen Orten zu verstecken.
»Das ist ganz normal«, sagte einer meiner Mitangeklagten, »wenn die Polizei nicht dich durchsucht, wen dann?«
Dass ich so lange durchgehalten habe, habe ich der Liebe von Song Yu zu verdanken. Die Nächte waren zu kalt, in wie vielen ähnlich kalten Nächten hatte der Wind gegen das einfache Fenster geklopft, war meine Hand steif geworden, und ich ließ den Stift fallen und rieb mir die Hände. Song Yu hat sich im Traum, wenn ihr die Decke zu klein wurde, gewohnheitsmäßig herübergelehnt, mein rechtes Bein umklammert und weitergeschlafen. Mit dem Schuldgefühl, dass ich sie »mit in den Dreck ziehe«, deckte ich sie zu und wagte mich nicht zu rühren, auch wenn mein Bein steif wurde. Ich schob die umgekippte Schreibschublade von mir und reinigte ungeschickt das Schlachtfeld meiner Schriftstellerei. Damals war noch unsere Hündin Yuzui bei uns, sie winselte, ihr war kalt, und sie schabte draußen an der Tür: »Wir sind ein Dreipersonenhaushalt«, scherzte Song Yu oft.
Wenn ich nicht im Knast gesessen hätte, hätte dieses Zimmer vielleicht einem anderen Dreipersonenhaushalt gehört. 1993 war A Xia bereits einmal mit Miaomiao in Chengdu gewesen und hatte lange hier gewohnt; als sie danach in die freie Wirtschaft gegangen ist, hat sie ihren Wohnsitz von Chongqing nach Chengdu verlegt und ebenfalls hier gewohnt. Jetzt haben die Bewohner gewechselt, das Bett ist noch dasselbe, die Körperwärme meiner Schwester Feifei ist noch da – das Bett war eines der ersten Möbelstücke, das sie vor 20 Jahren für unsere Familie gemacht hat.
Sie starb auf der Bergstraße von Jiangyou nach Pingwu, und Jiangyou war Song Yus Geburtsort. Wenn es da droben wirklich Gespenster gibt, bin ich auf dem alten Weg, den Feifei oft gefahren war, als sie noch lebte, Song Yu begegnet, seither haben wir aneinander festgehalten und die Tage, die sich aus dem Gefängnis mit ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit ausdehnten, überstanden.
Dieses Bett, dieses Zimmer war längst von weißen Ameisen ausgehöhlt worden. Jedes Jahr, wenn es wärmer wurde und zu blühen begann, schlüpften die fliegenden Insekten aus ihren engen Nestern, über das Türfenster und die Wand zog kriechend eine Flechte, die aussah wie ein Wandbehang und einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Song Yu und ich haben oft die Rolle des Kammerjägers übernommen und mit Desinfektionsmasken im Gesicht wild mit Insektenvernichtungsmittel herumgesprüht, während ihre Eltern es übernahmen, die Haufen von Ameisenleichen wegzukehren. Der Papa lobte immer wieder die Stabilität der Möbel, die aus einem Holz gemacht waren, das tief in den Bergen wuchs – aber da konnten sie noch so stabil sein, der Ameisenkatastrophe hielten sie nicht stand. Als der Umzug bevorstand, waren Schrank und Bett ganz leicht
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