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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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herunter und entblößte mein Hinterteil und ließ mich von den Beamten und Rotfellen um mich herum begaffen.
    Dann ging es eine Steintreppe hinunter, durch noch eine Tür und eine letzte Sperre, dann stand ich müde an Leib und Seele in einem großen Hof. Über meinem Kopf war ein Regendach aus Plastik, das Himmel und Sonne verdeckte und die Gesichter der kahlen Kürbisse, die um mich herumsprangen, zu grünlichen Teufelsfratzen machte; es war, als hätte man mich zu einem illegalen Menschenmarkt gebracht, wo ich unter Hunderten von Kriminellen, die die unterschiedlichsten Gesichter hatten, jedoch alle die gleiche Kleidung trugen, nicht wusste, wohin mit meinen Armen und Beinen. Ein Gruppenleiter wühlte sich aus dem Menschenhaufen und bedeutete mir, den Koffer abzustellen.
    Nach dem Mittagessen wurde ich mit einer großen Gruppe von Neuankömmlingen zum Haareschneiden gerufen, wo dann auch Hand- und Fußabdrücke abgenommen und für die Unterlagen erfasst wurden. Zu den vollständigen Hand- und Fußabdrücken kamen noch die Abdrücke der einzelnen Finger, Fingerglieder, Zehen und Fersen. Danach wurden die Koffer ausgepackt, die Klamotten herausgekippt und das für dieses Gefängnis spezifische runde Zeichen aufgedruckt und die Mäntel, Hosen, Atlanten und andere leicht mit der Außenwelt zu verwechselnden Gegenstände für immer in einen nach Schimmel stinkenden Speicher verfrachtet. Als ich dann die für alle gleiche Gefangenenweste, gelb auf blauem Grund, übergestreift hatte und das darauf angebrachte weiße Namensschild mit Bild, Namen, Arbeitseinsatz und -gruppe trug, war ich wirklich in der hochgradig konzentrierten großen Familie der Gefangenen aufgegangen. Ihre grundlegenden Forderungen an jedes ihrer Mitglieder waren: ausnahmslos kahlgeschoren, ausnahmslos Gefängniskleidung, ausnahmslos Namensschilder.
    »Die Verhaltensregeln für Gefangene in der Umerziehung durch Arbeit«, die das Justizministerium herausgebracht hatte, hatten insgesamt 58 Paragraphen, die musste man auswendig lernen, die mussten einem in Fleisch und Blut übergehen, um jederzeit für jede plötzliche Untersuchung, aus welcher Richtung auch immer sie kommen mochte, gewappnet zu sein.
    Nach diesen Regeln mussten Neugefangene über ein halbes Jahr in ein Trainingslager, erst nach dieser standardmäßigen Wareneingangsprüfung wurden sie neu auf die einzelnen Brigaden verteilt. Da der frische Wind von Deng Xiaopings Reise in den Süden bis in dieses Gefängnis zu spüren war, falteten wir hier die Papiertüten für das gleiche Kinderberuhigungsmittel »Kleinkindruh« wie schon im Untersuchungsgefängnis. Das war das eine. Das andere war, wir mussten aufmerksam sämtlichen Regeln, sämtlichen Belehrungen der Vorsteher und sämtlichen Artikeln aus der in diesem Kreis verlegten »Erziehungszeitung« lauschen. Dazu kamen der Drill, bei Wind und Wetter wurden meine Glieder, mein Gehörsinn, meine Belastbarkeit und meine Augen trainiert.
    Im alltäglichen Leben derart überbelastet, mussten wir gleichzeitig zu unserer nächtlichen Tütenfalterei auch noch die »58 Paragraphen« schweigend vor uns hin sagen; wenn wir dann in einen tiefen, schweineartigen Schlaf fielen, mussten wir doch wachsam wie ein Jagdhund sein. Täglich mussten wir ein gutes Dutzend Mal in Reih und Glied für einen Namensappell antreten und uns von unseren privaten Gedanken vollständig säubern. Einen guten Monat nach meiner Verlegung in dieses Gefängnis habe ich fast nur noch etwas gesagt, wenn ich gefragt wurde, bewegte mich mit geschlossenen Fäusten in leichtem Trab und antwortete instinktiv nur noch mit »angekommen« und »ja«. Der Gruppenleiter belehrte uns, dass das Trainingscamp für die Neuankömmlinge der Dreh- und Angelpunkt für eine reibungslose Karriere im Umerziehungslager sei.
    Es war proppenvoll, wir hatten in einem Durchgang für gut 40 Tage unsere Schlafstellen auf dem Boden aufgeschlagen, erst dann durften wir in die Zellen. Nach über zwei Jahren hatte ich zum ersten Mal ein Bett ganz für mich allein, ich kletterte hinein, und entgegen meiner sonstigen guten Gewohnheit, sofort in einen totenähnlichen Schlaf zu fallen und zu träumen, lag ich die halbe Nacht wach, so durcheinander war ich. Im nächsten Bett lag ein buckliger Alter, er war über 70 und litt an Asthma, der Blasebalg seines Körpers pumpte derart, dass das Eisengestell des Bettes knirschte und schwankte wie ein Schiff auf hoher See.
    Ich freute mich noch darauf, dass der Wind sich

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