Für ein Lied und hundert Lieder
eines literarischen Fernkurses am Fuße des Leshan und des großen Buddhafußes teil. Über zweihundert Fernkursteilnehmer waren in einem Raum im Hotel versammelt, die den unermüdlichen Belehrungen von Shi und einigen Dutzend anderen bekannten Dichtern lauschten, das nahm den ganzen Tag und die ganze darauffolgende Nacht kein Ende. Agenten in Zivil tauchten in der Dunkelheit auf und verschwanden wieder, das ging eine ganze Zeit so, schließlich nutzten sie die Gelegenheit und umringten den »Kriminellen« Shi Guanghua, als er aus dem Haus trat, um frische Luft zu schnappen.
Der holistische Dichter Song Wei ist ihnen bei dieser Verhaftungsaktion allerdings durch die Maschen geschlüpft. Wie man erzählt, hat er sich, als das Unglück seinen Lauf nahm, auf dem Boden eines uralten goldbemalten Betts versteckt; die Polizisten haben mit Taschenlampen alles abgeleuchtet, sie haben die Bambusstämme, die das Ganze zusammenhielten, mehrfach abgesucht, aber sie haben ihn nicht entdeckt.
Drei, vier Wichtigtuer legten Hand an, konnten das Bett aber auch um keinen Millimeter verrücken. Zum Glück war der gute Song auch noch ein selten dürrer Kerl, der auch für das Schreiben von Gedichten lange Zeit »die große Erscheinung ohne Form« gefordert hatte – jedenfalls konnte er aus diesem Grund mit der Bettstatt, ihrem antiken Geruch und ihrer altertümlichen Farbe vollkommen verschmelzen.
Bei allen Delinquenten und vorgeladenen Verdächtigen wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, bei den Behörden der Öffentlichen Sicherheit in Chengdu wie in Chongqing türmte sich die Kriegsbeute zu wahren Bergen. Nach diesem Zeitpunkt gaben die illegalen Gruppen der Bashu-Dichter [26] , die sich immerhin über fast zehn Jahre gehalten hatten, ihren Zusammenbruch bekannt.
Als A Xia und ich im Gefängnis waren, war es auch vorbei mit dem Familienvermögen, das wir beide aus den Manuskripthonoraren zusammengetragen hatten. Polizei und Einbrecher drangen wechselweise in die Wohnung ein und durchstöberten alles – das bedeutete auch, dass am gleichen Abend, an dem die Polizei ihrer Pflicht nachkam, auch die kleinen Diebe zur Stelle gewesen sein müssen. Neben Manuskripten, Büchern, Fotos, Tagebüchern, CD s und anderen kulturellen Beweisstücken hatten auch Briefmarkenalben, Kleidung, Geld, Bettzeug und aller mögliche Nippes Beine bekommen. Als A Xia gegen eine Bürgschaft aus der Haft entlassen wurde, stand sie in völlig leeren vier Wänden, eine Weile war sie sich gar nicht im Klaren darüber, wer jetzt eigentlich das Gesetz vollstreckt hatte, die Polizei oder die Unterwelt.
Das Ganze war eine Tragikomödie, so etwa wie die Sache mit der »Totenstadt« [27] – an dem Text haben sich damals professionelle Kritiker die Zähne ausgebissen, aber die Polizei bildete eine Studiengruppe und grub sich Abschnitt für Abschnitt durch den Text und suchte für den Sprachcode des Gedichts Entsprechungen in der Wirklichkeit. Anfang der 90er Jahre waren meine ersten und auch meine beharrlichsten Leser Polizisten. Sie waren eine Meute grinsender Schäferhunde, die mir plötzlich mein geistiges Eigentum raubte, ohne eine detaillierte Liste der geraubten Dinge zu erstellen, und nicht einmal danke sagte.
Ich bewahre heute noch eine »Liste am Leib getragener Gegenstände« im Gedächtnis, auf der hieß es:
Manuskript, 400 Seiten; ein Manuskript selbstverfasster Gedichte, Titel »Die Totenstadt«; ein Band Prosagedichte; ein Band Gedichtmanuskripte von Li Yawei; ein Band selbstgemalter Kugelschreiberskizzen von A Xia (150 Blätter); acht Exemplare einer Zeitschrift für Untergrundlyrik; acht Bücher; eine Musikkassette »Massaker«; ein Videoband Kunstfilm »Requiem«; eine Musikkassette Lesung »Requiem«; 12 Musik- CD s; ein Kassettenrekorder; Presseausweis, Arbeitsausweis, neuerer Personalausweis, einer; dattelroter Rucksack, einer; goldener Kugelschreiber, groß, Marke Parker, einer; kleinformatiges Fotoalbum, eines; Schuhe, ein Paar; Kleidung, verschiedene; 1300 Renminbi; Marken mit landesweiter Gültigkeit für 60 Pfund Getreide.
Jahre später, nach meiner Entlassung, um genau zu sein am 26. Mai 1994, bin ich aufgefordert worden, mir vom Amt für Öffentliche Sicherheit in Chongqing meine Habseligkeiten rückerstatten zu lassen. Wegen meines seltsamen Äußeren und weil der Wachmann an der Tür die Vorgeschichte nicht kannte, bin ich mit großem Hallo direkt in das strikt abgeriegelte Herzstück der Sonderabteilung
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