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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hing wie ein Eimer – es dauerte nicht lange, und ich war müde. Aber ich tanzte eisern weiter und trat der Kleinen zweimal schwer auf die Füße. Sie schaute mich wütend an, kaute an meinem Ohr und säuselte: »Trampel.«
    Die Melodie wurde immer weicher, sie war ein fortgesetztes Gähnen, aber ich hielt weiter dem getanzten Nahkampf stand. Die Kleine wehrte sich eine Weile, dann beruhigte sie sich, steckte mir ihre Hand schief in den Kragen – war das nun Hänselei oder Unterwerfung? Ich zögerte noch, da wich sie mir aus wie eine Klapperschlange.
    Sie setzte sich dreist Yawei auf die Knie und schielte zu mir herüber. Dieser verstunkene Penner fühlte sich gebauchpinselt und griff ihr so selbstverständlich um die Hüfte, als sei sie eine große Schüssel mit rotgebratenem Fleisch. Ich schloss die Augen und fing an zu singen »Die roten Beeren blühen«. Als ich die hohe Stelle hinausheulte, war ich so mitgenommen, dass ich nach Luft schnappte. Eigentlich ein ganz hübsches Liebesliedchen, aber ich hatte etwas daraus gemacht, das schwerer zu ertragen war als das Schlachten eines Schweins. Aber alle jubelten.
    Als Nächstes kam »Die Kosaken auf dem Don« – Yawei hatte die Gitarre im Arm und schlug die Akkorde, als würden die Steppenpferde über seine Finger galoppieren. Dem wollte Taiheng nicht nachstehen, er brüllte als Nächstes ein Lied von Cui Jian [23] , den Text habe ich längst vergessen, aber der Grundgedanke erschüttert mich bis heute. Es ging ungefähr so: Die Sonne ist untergegangen, die Leute wollen sie auf den Schultern wegtragen, sie plagen sich ihr Leben lang ab und werden krumm und bucklig dabei. Ich müsse mal raus, log ich, ging an die frische Luft und habe das Klo vollgekotzt. Hm, wieder zu viel getrunken, wenn man betrunken ist, wird man weich, wenn man melancholische Melodien hört, kommt man nicht mehr davon los.
     
    Das traurige Besäufnis ging bis Mitternacht, Taiheng legte mit Vorbedacht die Hintergrundmusik unseres Films auf. Ein hervorragender deutscher Blasmusiker spielte auf einer chinesischen Langflöte drei Lieder »Qi« und »Gen« und Mozarts »Requiem«-Fragment, der Klang des indischen Yoga und die Lesestimme von Ezra Pound.
    Die Kleine verschwand händchenhaltend mit Yawei in den Schlafgemächern, Taiheng und seiner jungen Frau blieb nichts anderes übrig, als schief und krumm auf dem Sofa zu schlafen. Kaum war das Licht aus, kam der Zug angedröhnt, das Zimmer schwankte wie ein Schiff, ein tiefer Tunnel, wie ein Wirbel wickelte sich Schamhaar um meine Vorstellungen. Ich holte ein paarmal tief Luft, dann zählte ich, und als meine Hände und Füße zu schwitzen begannen, wurde ich langsam von Schläfrigkeit übermannt. Unerwarteterweise kamen aus dem Abteil nebenan ungeduldige Laute, erst langsam und zögernd wie eine in der Ferne angeschlagene Glocke, dann wurde daraus ein drängendes Gong- und Trommelschlagen. Mit einem Mal floss mein Blut schneller, es fiel mir schwer, ruhig liegen zu bleiben, also krümmte ich mich zum Fenster hin, mit der Schädeldecke direkt an der Wand. Der Tiger im Käfig war noch am Reißen, er kaute genüsslich an dem Fleisch herum, und das gut vernehmliche Saugen des Blutes regte mich so auf, dass ich unweigerlich anfing, mein Geschlechtsteil zu reiben.
    Ich machte eine ganze Menge unkontrollierter Bewegungen, aber mein Spielzeug stand immer noch wie eine Eins, das Brunftgebrüll in meinen Ohren war lauter als Brüllen von Befehlen beim Militär.
    Verglichen mit dem Instinkt war das Denken wie eine schwächliche alte Witwe, wenn sie einmal gekränkt wird, verkriecht sie sich wimmernd in einer Ecke. Die Ohrfeigen, die ich meinem Unterkörper mit beiden Händen verpasste, sollten meinem Denken helfen, sich aus seiner Schmollecke zu erheben.
    In diesem Augenblick waren im Stockwerk unter uns Schritte zu hören, mit einem Satz war ich auf den Beinen, wie ein Schatten glitt ich an Taiheng und seiner Frau vorbei und wartete neben der Tür. Ein wütendes Pochen, Wan Xia und Zeng Lei nahmen mich wie Polizisten in Zivil in die Mitte, und wir drei verschwanden lautlos im Morgen.
    Ein paar Minuten später saß ich bereits in der Aufnahmebaracke des audiovisuellen Lernzentrums der Dritten Militärmedizinischen Universität, wo Zeng Lei mit einer dem historischen Augenblick angemessenen Gewichtigkeit mir den gerade fertiggestellten Film »Requiem« vorführte. In seinem Militärmantel versunken, fragte Wan Xia: »Bartgesicht, willst du noch etwas

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