Für ein Lied und hundert Lieder
ändern? Nur heraus damit!«
»Es ist ausgezeichnet so!«, sagte ich mit Bestimmtheit, und Zeng Lei atmete auf. Wan Xia hing kraftlos auf seinem Stuhl, wie ein Zombie. Zeng Lei richtete das Videoband für mich, seine Bewegungen waren immer noch geschmeidig wie die eines Panthers.
»Das Video kannst du behalten und nach Beijing mitnehmen.«
Ich drehte mich um und verließ das Gebäude, Wan Xia hob die Arme und verschwand auf Nimmerwiedersehen in seinem Mantel. Zeng Lei sagte leise: »Mach’s gut, Bartgesicht! Ich werde das alles mein Leben lang nicht vergessen.«
Die Nacht zog sich unbemerkt zurück, ich ging zurück, woher ich gekommen war, und legte mich wieder ins Nest. Als ich mich hinlegte, war es 10.00 Uhr, vormittags, der 16. März. Xiaomin hockte auf dem Sofa und sah mich lächelnd an, sie hielt mein Geld und mein Zugticket in der Hand. Ich nahm beides und warf mir, ungewaschen, wie ich war, den Rucksack über. Bevor ich aus der Tür war, fiel mein Blick auf Yawei, erbärmlich zusammengerollt in einer Ecke des Bettes, ich grüßte zum Abschied, Yawei gab ein »Pass auf dich auf!« zurück. Mit unsicheren Beinen machte ich mich auf dem Weg. Als ich auf den Bus wartete, kämpfte ich mit meinen Augenlidern, als ich drin war, bin ich im Stehen eingeschlafen.
Von Anfang an waren zwei Streifenwagen hinter uns her, vielen Fahrgästen kam das merkwürdig vor, und ich, von allen guten Geistern verlassen, bemerkte gar nichts. Die Linie 17 erreichte ihre Endstation, ich stieg als einer der Letzten aus und hatte vor, mit der Kreislinie 1 zum Bahnhof zu fahren.
Ich schaute auf die Armbanduhr, ich hatte noch vierzig Minuten Zeit. Ich ging um eine Pfütze herum und stand vor einer weiteren Wasserlache, der Nieselregen wurde dichter.
Im Untersuchungsgefängnis
»Liao Yiwu!«
Geistesabwesend hörte ich, dass mich eine Stimme rief. Es war wie im Traum. Zögernd blieb ich stehen, durch zusammengekniffene Augen schaute ich mich um, der öde Regenvorhang, die Bergspitzen, die hochstanden wie Brustwarzen, der mäandernde Umgehungsring unter den ineinander verzahnten Fängen der Hochhäuser weich wie die Lippen eines Mundes.
»Liao Yiwu!«
Der Ruf wurde deutlicher. Drei Schatten, eingepackt in militärische Regenoutfits, wehten über die Straße und lösten sich jäh aus den Zahnzwischenräumen. Instinktiv wich ich zurück, aber ich sah in einem Ärmel Handschellen baumeln. Die Schatten wurden wirklich, einer in Zivil griff sich mein rechtes Handgelenk, schlug mir zweimal die Handschellen dagegen, aber er machte sie nicht zu. Ich war ganz von der Rolle und setzte einen linken Haken an, aber von hinten kam eine Hand wie eine Schlingpflanze und drückte mir den Hals zu. Mir drehte sich alles, ich hatte das Gefühl, in meinen ganzen Körper hätten sich wilde Tiere verkrallt.
Ich kämpfte etwa fünf Minuten um mein Leben, wie ein Aal im Schlamm, die Hände wurden mir auf den Rücken gefesselt, und die Männer drängten sich mit ihrem Paket auf den Hintersitz eines mittleren Jeeps. Zwei große Kerle hielten mich in der Mitte, sie dampften vor Wut, dann knallte die Tür zu. Ein Polizist wischte sich vor der Scheibe das Blut von der Nase, ein anderer lutschte wild an seinem lädierten Ringfinger. In einem weiten Kreis drum herum standen die Leute und gafften.
»Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!«, brüllte der Kerl rechts von mir und rüttelte an meinen Fesseln – die Stahlzähne bohrten sich knirschend ins Fleisch, aber ich war schon ganz apathisch, oder besser gesagt, ich war tot.
Eine Kolonne von Polizeiautos raste mit Blaulicht und Tatütata davon, Autos und Passanten wichen zur Seite. Der Fettsack auf dem Fahrersitz griff sich ein Handy und schnarrte hochnäsig hinein: »Zentrale, Zentrale! Nummer eins zappelt im Netz, wird zum Kiefernberg gebracht.«
Zur gleichen Zeit lief eine großangelegte Verhaftungswelle.
Ich hatte gerade erst die Wohnung von Liu verlassen, Li Yawei war aufgestanden und hatte Liu Taiheng zu seiner Einheit begleitet, damit der sich wenigstens dort sehen ließ. Die beiden Raucher mit ihren aschgrauen Gesichtern bestiegen kraftlos einen Bus, überquerten die Straße und kletterten dann die Stufen zum Kino hinauf. Eine Reihe von Spezialagenten hatte sich imposant oben auf der Treppe aufgebaut und nahm die beiden in Empfang. Man hat mir erzählt, man habe noch Hände geschüttelt, irgendwelche Begrüßungsfloskeln gewechselt, dann seien alle zusammen in einen Wagen gestiegen.
In
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