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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hinaufzusteigen, vor dem Treppenabsatz zum zweiten Stock brachte mich der Wachmann ins Stolpern. Ich kniete mich auf, ein Agent löste mir die Handschellen und zwang mich, etwas zu unterschreiben, woraufhin mir Rucksack, Schuhe und Socken weggenommen wurden.
    Ich starrte vor mich hin, im Handumdrehen warfen sich fünf kahlgeschorene Gefangene in blauen Klamotten, die zur Umerziehung durch Arbeit hier waren (und die einfach »Rotfelle« genannt wurden) auf mich, ich wurde im Korridor umgedreht, Hände und Füße wurden mir nach hinten gebunden, ein Rotfell zerrte von vorne an meinen Ohren, der Killer ritt auf mir mit einer Haarschneidemaschine in der Hand, zwickte mir stolz wie Oskar die Kopfhaut und fing an, mir den Kopf zu scheren. Zuerst schlug er mutig vom Genick aus nach vorn eine Schneise, dann fuhr er mit der Maschine kreuz und quer und biss sich vor Eifer auf die Zunge. An diesem Punkt hätte auch ein großer Mann mit der Robustheit eines Tigers seine Würde verloren, ich jedenfalls würde für die zweite Hälfte meines Lebens weder Haar noch Bart wieder wachsen lassen.
     
    Mein Kopf war entblößt, und auch mein Körper wurde entblößt. Die Rotfelle prüften Kleidung und Hose, die sie mir vom Körper gerissen hatten, Zentimeter für Zentimeter, stapelten sie neben sich und machten sich erst dann daran, meinen Mund, meine Achselhöhlen und meine Fußsohlen zu untersuchen. Ich griff mit beiden Fäusten leer an meine Seiten, machte instinktiv eine Bewegung, mir die Hosen hochzuziehen, als mir der Anführer der Rotfelle befahl, das Gesäß hinauszustrecken – mit äußerster Sorgfalt fuhr er mir mit einem Bambusstäbchen in den Anus, dann schlug er mir auf den Oberschenkel und rief: »Gut.«
    Seit meinen Babyzeiten war ich nicht mehr ohne einen Faden am Leib den Blicken anderer ausgesetzt gewesen, die Exhibition dauerte etwa sieben Minuten, aber das war länger als ein ganzes Leben. Ich zitterte in der kalten, feuchten Luft wie Espenlaub und presste mein Gesicht zwischen die Knie, typische Embryohaltung, schloss die Augen und versank völlig im Fruchtwasser. Verdammte Scheiße, ich hätte nicht gedacht, dass ich schon beim ersten Schlag zu Boden gehen würde!
    Eigentlich hatte ich sagen wollen, dass ich ein Dichter bin, dass ich etwas darstelle, das heißt früher, und zwar hundertmal mehr als … Leider schwächen einen solche Ideen noch viel mehr, man kommt noch viel schniefiger drauf und kann mit dem Flennen überhaupt nicht mehr aufhören. Diesen Augenblick der Naivität und der Schwäche habe ich lange Jahre sehr bereut. Ich zog meinen Körper, der schon alle möglichen Brutalitäten über sich hatte ergehen lassen müssen, nach Kräften zusammen, machte mich immer kleiner, ich dachte, auf diese Weise würde die junge Hure in der ersten Nacht unbeschadet bleiben.
     
    Nach der Leibesvisitation wurden Kleidung, Hose, Schuhe, Gürtel konfisziert, ich musste mit beiden Händen die Unterhose oben halten und mit einem Alten in blauen Klamotten (das nichtamtliche Personal im Gefängnis wird von den Gefangenen als »gute Onkels« bezeichnet) nach rechts in einen Rundgang einbiegen, wo wir nach einem Dutzend Schritten die Zellentür der ersten Zelle im Außentrakt erreichten; der gute Onkel zog einen Schlüssel heraus und stieß einen langgezogenen Schrei aus, es klang wie ein Schakal: »Gruppe zwei, Ware abholen –!«
    Meine Kopfhaut war taub, aber ich hob den Kopf und erblickte zwei Reihen gleichmäßig polierter Schädel, darunter jeweils gekreuzte Beine, Brust vor, wilde Augen und düstere Brauen, die zu meinem Entsetzen zu brüllen anfingen:
    »Diebesgesindel! Tötentötentöten!«
    Auf eine derart feierliche Begrüßungszeremonie war ich nicht gefasst, ich bekam weiche Knie, kroch mit vollen Hosen vor ihnen herum wie ein Hund. Der Killer neben der Tür hob das Schloss der schweren Eisentür, tat so, als wolle er es aufbrechen, ich schoss auf Händen und Füßen durch die Zelle, sechs, sieben Meter in der Länge und gut eine Elle in der Breite, bis ich in der Ecke bei der halb mannshohen Latrine landete. Die Holzdielen waren glatt wie ein Spiegel, ich blieb gegenüber der Latrine hocken, umklammerte mit beiden Händen meinen Kopf und genoss meine Fresse, die alles von ihrer Vornehmheit verloren hatte. Von meinem Hinterkopf her kam in höchster Fistelstimme ein Befehl: »Diebesgesindel! Einszweidreivierfünfsechssieben, begriffen wie viel?«
    In einem Anfall völliger Verblödung verteidigte ich mich:

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