Für ein Lied und hundert Lieder
diesem Augenblick hastete Xiaomin, die Frau von Liu, von einem Kaufhaus nach Hause, riss Türen und Fenster auf und brachte die düstere Stimmung, die dort eine Nacht lang geherrscht hatte, wieder in Ordnung. Sie nahm vom Kleiderbord einen Seidenschal, band ihn sich um den Kopf, krempelte die Ärmel hoch und machte sich ans große Aufräumen – als auf einmal der Dichter Wang Qibo auftauchte. Der Hintern ihres Gastes war kaum mit dem Sofa in Kontakt gekommen, als am Eingang des Korridors plötzlich ein ziemlicher Spektakel losging. Xiaomin reagierte rasend schnell, langte wie nebenbei einen Stapel CD s von der Anlage und stopfte sie Wang in die Jacke (darunter war, wie es der Zufall wollte, auch eine Aufnahme des »Massakers«), dann drängte sie als Erste aus der Tür. Die beiden liefen auf dem engen Flur den Polizisten direkt in die Arme, bogen die Schultern seitlich weg und ließen sie durch, ein paar Sekunden später wurde in der Wohnung der Lius das Unterste zuoberst gekehrt.
Xiaomin war durch die Maschen geschlüpft, verließ das Haus und tat eine Weile nichts als rennen, dann ging sie zur Post und schrieb Telegramme an A Xia und Ba Tie, Text: »Bartgesicht Krankheit kritisch«; danach rannte sie zum Tatort an der Militärmedizinischen Uni, in den vierten Stock hinauf, wo sie auf Wan Xia stieß, unseren Regisseur, der seinen Kopf gebückt aus dem Waschkabuff streckte, sie konnte gerade noch rufen: »Es ist was passiert!«, da hatten die Agenten sie schon eingeholt. Sie huschte auf die Toilette und konnte durch den Türspalt und das Fenster die ganze Verhaftung von Wan Xia und Zeng Lei mit anschauen. Die beiden Delinquenten standen Schulter an Schulter vor dem Gefangenenwagen stramm, einer mit einem Videotape in der Hand, das mit dem Fall zu tun hatte. Wan Xias Haar war zerzaust wie bei einem Mädchen, in den Mundwinkeln klebte noch der Schaum von der Zahnpasta.
Erst als die Sache schon eine ganze Weile vorbei war, bekam Xiaomin das große Zittern, und ihr wurden die Knie weich; sie setzte sich allein vor das leere Unterrichtsgebäude und hörte nicht mehr auf zu weinen. Und selbst nach einer ganzen Reihe von Tagen begriff sie immer noch nicht, was eigentlich passiert war. Das schwache Mädchen war schon im dritten Monat, eine göttliche Hand muss sie geführt und dieses Wunder in der Spionagegeschichte bewirkt haben.
Im Untersuchungsgefängnis am Steinplattenhang habe ich dann später ganz unerwartet eine Neujahrskarte von ihr bekommen. Was auf der Karte stand, habe ich längst vergessen, aber das Foto, auf dem das Kind sein Pimmelchen demonstrativ zeigt, berührte mich – ein paar Tage lang zogen mir Bilder echter Freundschaft durch den Kopf, einer Freundschaft auf immer und ewig, und dann ließen die beiden sich scheiden, kaum dass Liu Taiheng aus dem Knast war.
Ba Tie, A Xia und Gou Mingjun wurden drei Tage später verhaftet. Nachdem sie das Telegramm von Xiaomin bekommen hatte, war A Xia sofort zu Ba Tie gegangen. Aber der war mit seiner Weisheit am Ende, so dass A Xia wohl oder übel selbst sehen musste, was sie unternahm. Sie verbrannte die Korrespondenz mit Michael Day und schaffte einen großen Jutesack voller Manuskripte weg, das Manuskript von »Requiem« war auch darunter.
Chongqing war das Zentrum, von hier aus legten sie ihr Netz in alle Richtungen aus, bei den wirklichen Kriminellen schwebte man in tausend Ängsten.
Selbst Feifei-Poeten [24] wie u.a. Lan Ma, Yang Li, Shang Zhongmin, die mit der ganzen Geschichte nicht das Geringste zu tun hatten, versteckten sich bei dem Dichter Yu Tian in Mianyang – dabei wurde der sensible Yu Tian längst von den Sicherheitsbehörden überwacht.
Zhou Zhongling wurde um Mitternacht verhaftet. Das Hinkebein kam mit seinem Roman nicht weiter, also las er, wie es seine Gewohnheit war, einfach etwas, als er von einer plötzlichen Unruhe ergriffen wurde. Er ging vor die Tür, um irgendwo zu pinkeln. Er hatte sich gerade erleichtert, als er feststellen musste, dass um sein Haus herum eine Unmenge von Lichtern aus Taschenlampen sich kreuzten. Der gute Zhou, der sich gerne um Dinge kümmerte, die ihn nichts angingen, rief in die Dunkelheit hinein: »Was sucht ihr hier?« Ein sehr hartes Irgendwas hielt ihn an der Hüfte.
Die Verhaftung von Shi Guanghua, dem Nestor der Holistischen Lyrik [25] , wurde im Umkreis zu einer Legende. Damals nahm Shi gerade an einer von der Zeitschrift »Xingxing« organisierten Veranstaltung zur Überarbeitung von Texten
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