Für eine Nacht
schon auf dem Grundstück, und wenn sich Ihre Mutter zum Abendessen verspätete, drohte Ihr Großvater, das Ding abzureißen.«
Die Vorstellung stimmte Sloane traurig. »Das klingt schon eher nach ihm.«
»Es war nicht groß, aber für uns reichte es, denn dort waren wir ungestört. Wir konnten uns über Jungs und all die Dinge unterhalten, die junge Mädchen beschäftigen. Jacqueline war ein offener, unbeschwerter Teenager, aber ihre Eltern gaben ihr nie die Möglichkeit, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten.«
»Ich weiß, wie das ist«, murmelte Sloane. Es erschütterte sie, dass ihre Mutter unter ähnlichen Umständen aufgewachsen war wie sie selbst. Von ihnen beiden war stets erwartet worden, dass sie sich an bestimmte Regeln und Etikette hielten. Mit einem Mal fühlte sich Sloane der Mutter, die sie nie gekannt hatte, innig verbunden. Jetzt wusste sie, warum sie sich in ihrer Politikerfamilie immer wie eine Außenseiterin vorgekommen war. Sie war die Tochter ihrer Mutter. Und zusammen mit dieser Erkenntnis stellte sich ein seltsames Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser kleinen Stadt bei ihr ein.
»Dann verstehen Sie sicher, warum das Baumhaus so wichtig für sie war. Es war ihr Refugium, ihre einzige Zuflucht.« In Erinnerungen gefangen schüttelte Raina den Kopf.
»Ob es wohl noch existiert?«
Raina zuckte die Achseln. »Ich denke schon. Soll ich Ihnen die Adresse geben? Dann können Sie selbst nachschauen.«
»Das wäre nett.«
Raina griff nach einem Zettel und einem Stift, kritzelte Straße und Hausnummer darauf und schob den Zettel quer über den Tisch. »Aber gehen Sie da besser nicht alleine hin,
sonst werden Sie vermutlich mit Fragen überhäuft, die Sie nicht beantworten wollen«, warnte sie dann.
Sloane schob den Zettel in die Tasche. »Jetzt klingen Sie genau wie Chase.«
Raina beugte sich vor. »Und? Gefällt Ihnen das?«
»Ach, Raina«, tadelte Sloane. »Sie sind viel zu leicht zu durchschauen.«
»Und Sie sind eine Spielverderberin!«
»Chase sagte, Sie würden auch meinen Vater kennen?«, ging Sloane zum nächsten Thema über, das ihr am Herzen lag. Bislang hatte sie von Raina Chandler weit mehr erfahren, als sie je zu hoffen gewagt hätte.
»Samson, meinen Sie?«
Sloane nickte. »Bis jetzt ist er nur ein Name für mich.« Sie stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. Immer wenn sie über ihren unbekannten Vater sprach, wurde sie unruhig und fahrig. »Aber seit ich hier in der Stadt bin, werde ich das Gefühl nicht los, er könnte sich nicht als der Mann entpuppen, den ich mir vorgestellt habe.«
»Oder den Sie vorzufinden gehofft haben?«, hakte Raina sofort nach.
Chase musste seinen Scharfsinn von seiner Mutter geerbt haben, denn Raina hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir ein Bild von ihm zu machen«, gab sie zu. »Am Tag nachdem ich erfahren habe, dass Michael Carlisle nicht mein richtiger Vater ist, bin ich sofort hierher gefahren. Und das Erste, was ich hier zu hören bekam, war, dass noch nie jemand Samson als Herrn bezeichnet hat oder dass er bei Norman’s Sandwiches schnorrt. Exzentrisch hat Chase ihn genannt.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Hoffentlich konnte Raina Licht in das Dunkel bringen.
»Samson ist ein merkwürdiger Mensch«, erwiderte Raina
ebenso taktvoll, wie ihr Sohn sich ausgedrückt hatte. »Mürrisch und eigensinnig. Aber er ist harmlos und wird oft vollkommen falsch eingeschätzt.«
Sloane drehte sich um und sah Raina an. »Wieso das denn?«
»Weil die Leute dazu neigen, sich vorschnell eine Meinung über einen Menschen zu bilden, ohne sich zu fragen, warum er so geworden ist.«
»Wie meinen Sie das?«
Raina streckte sich der Länge nach auf der Couch aus. Sie sah noch mitgenommener aus als zu Anfang ihres Gesprächs. Sloane ermahnte sich, so schnell wie möglich mit Chase über den Gesundheitszustand seiner Mutter zu sprechen.
Nachdem sie eine Wolldecke über die Beine gezogen hatte, sprach Raina weiter. »Samsons Mutter war eine stille, unauffällige Frau. Sie hat im General Store als Kassiererin gearbeitet. Was sie verdiente, reichte gerade so zum Leben. Aber sein Vater war ein Spieler.«
»Ein Spieler?«
»Eine schlimme Geschichte.« Raina strich gedankenverloren über die Sofalehne. »Er hatte ständig Schulden und saß sogar eine Weile im Gefängnis, weil er Geld gestohlen hat, um seine Spielschulden zu begleichen. Gott sei Dank haben die Coopers, denen der General Store gehört, der
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