Für einen Kuss von Frisco
ließ irgendwelche Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Bewohners zu, abgesehen von einem Berg Schmutzwäsche in einer dunklen Ecke und einer nahezu leeren Whiskeyflasche neben dem Bett. Letztere allerdings sprach Bände. Es war nämlich genau die Flasche, die sie in der Nacht zuvor bei ihm gesehen hatte, draußen auf der Treppe. Zu dem Zeitpunkt allerdings war sie noch fast voll gewesen.
Kein Wunder, dass Natasha ihn nicht hatte wecken können.
Aber irgendwann war er eben doch aufgewacht und hatte feststellen müssen, dass die Kleine weg war. Vermutlich suchte er jetzt fieberhaft nach ihr und war halb wahnsinnig vor Sorge.
Am besten blieben sie einfach hier. Irgendwann würde er zurückkommen, um nachzusehen, ob Natasha nach Hause gekommen war.
Allerdings reizte sie der Gedanke, in Friscos Wohnung auf ihn zu warten, überhaupt nicht. Die Wohnung mochte noch so unpersönlich und geschmacklos eingerichtet sein, aber trotzdem fühlte sie sich wie ein Eindringling in seine Privatsphäre.
Mia wandte sich ab, um zu gehen, aber etwas Helles im Wandschrank weckte ihre Neugier. Sie schaltete das Deckenlicht an und öffnete die Schranktür ganz.
Verblüfft starrte sie auf den Inhalt. Nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Auf einem Kleiderbügel hing eine strahlend weiße, tiptop gebügelte Marineuniform. Links neben dem Revers waren unzählige bunte Orden angesteckt, in mehreren Reihen übereinander. Darüber steckte eine besondere Nadel: ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, der ein Gewehr und einen Dreizack in seinen mächtigen Klauen hält.
Mia hatte keine Ahnung, für welch ruhmreiche Taten Frisco diese Auszeichnungen erhalten haben mochte. Aber weil es so viele waren, wurde ihr eines schlagartig klar: Er hatte seinen Beruf geliebt und war mit Leib und Seele Soldat gewesen, weit über das übliche Maß hinaus. Wenn er einen oder zwei Orden gehabt hätte – das wäre ein Hinweis darauf gewesen, dass er ein guter und tapferer Soldat war. Aber das waren mehr als zehn. Hastig zählte sie nach. Zehn … elf ! Elf Orden! Demnach hatte Lieutenant Francisco wieder und wieder deutlich mehr getan, als seine bloße Pflicht erfüllt.
Mit einem Mal erschien er ihr in einem völlig anderen Licht. Auch sein Schlafzimmer war nun nicht mehr das eines Mannes, dem persönliche Dinge nichts bedeuteten, sondern das eines Mannes, der sich nie die Zeit genommen hatte, ein Privatleben außerhalb seines gefährlichen Berufs zu führen.
In diesem Licht betrachtet, sah sogar die Whiskeyflasche anders aus. Noch trauriger und verzweifelter als ohnehin schon.
Und ganz ohne persönliche Gegenstände war das Schlafzimmer doch nicht. Auf dem Boden neben dem Bett lag ein Buch mit Kurzgeschichten von J. D. Salinger. Salinger – wer hätte das gedacht …?
„Mia?“ Natasha stand in der Wohnzimmertür.
Mia schaltete das Deckenlicht wieder aus und verließ das Schlafzimmer. „Ich bin hier, Kleines, aber dein Onkel nicht.“
„Nicht?“
„Was hältst du davon, wenn wir jetzt zu mir hinübergehen und dein Schaumbad vorbereiten?“ Mia zog die Wohnungstür fest hinter sich zu. „Ich hänge deinem Onkel einen Zettel an die Tür, damit er weiß, wo du bist, wenn er zurückkommt.“
Außerdem würde sie Thomas anrufen. Wenn er zu Hause war, würde er sich vielleicht bereit erklären, nach dem Navy Lieutenant zu suchen und ihm zu sagen, dass mit Natasha alles in Ordnung war.
Sie schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und schob die Kleine hinein. „Ab mit dir ins Badezimmer“, forderte sie das Mädchen auf. „Wir stecken dich jetzt sofort in die Wanne. Einverstanden?“
Natasha zögerte und sah sie mit großen Augen an. „Meinst du, er ist sehr sauer auf mich?“
„Könnte man ihm daraus einen Vorwurf machen?“
Die Kleine ließ den Kopf hängen, und ihr Mund verzog sich, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. „Er hat geschlafen.“
„Nur weil er schläft, darfst du doch nicht einfach ungehorsam sein.“
„Ich wollte heimkommen, bevor er aufwacht …“
Mit einem Mal begriff Mia. Natashas Mutter musste ihren Rausch häufig bis in den Nachmittag hinein ausgeschlafen haben, ohne sich darum zu kümmern, was ihre Tochter währenddessen anstellte. Die Kleine war völlig vernachlässigt worden, und offensichtlich ging Tasha davon aus, dass Frisco sich ihr gegenüber genauso verhielt.
Also musste sich etwas Grundlegendes ändern.
„An deiner Stelle würde ich Frisco sagen, wie leid es dir tut, dass du einfach
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