Für hier oder zum Mitnehmen?
»Womöglich ist ihm auf der Toilette etwas zugestoßen. Dieser Sache sollten wir auf den Grund gehen. Aber warum hast du mir das eigentlich nicht mitgeteilt, als du von den Toiletten wieder herunter- und an meinem Büro vorbeigegangen bist?«
»Trinkgeld kann er dort jedenfalls nicht geben.« Sie ignoriert meine Frage und legt auf.
Kurz nach dem Besuch des Handelssoldaten hat Klamotte die Tafeln neu geschmückt. Seit einer Woche hängen sie nun an der Hauswand. Sie tragen Sinnsprüche, die alle mit einem Tier zu tun haben.
Dazu wird jeweils das passende Lebewesen abgebildet, stilisiert und einfarbig. Damit ist ein maximaler Bruch mit den Erwartungshaltungen erzeugt. Niemand kann auch nur erahnen, dass diese Tafeln irgendetwas mit Gastronomie zu tun haben. Die Menschen bei einem ihrer Urtriebe, der Neugierde, packen und damit anlocken. Das ist wessimäßig.
Von Unverständnis gebeutelt, schüttelte Klamotte nahezu ununterbrochen den Kopf, während er die Tafeln anbrachte. Das wertete ich als gutes Zeichen.
Das Café hat seitdem tatsächlich mehr und mehr Gäste. Ganz zart noch ist der Gästestrom, aber er ist vorhanden. Ob die wachsende Anzahl der Kunden tatsächlich von den Tafeln generiert wird oder einfach nur dem Zeitfaktor geschuldet ist, dessen Hebeln jeder gastronomische Betrieb in halbwegs guter Lage nach der Eröffnung unterliegt, vermag ich nicht zu sagen. Sie lässt den Laden zumindest nicht mehr als noch nicht eröffnet, sondern eher als eröffnet, aber schlecht laufend erscheinen. Selten befinden sich unter den wenigen Gästen ganz klassische Cafébesucher. Vielleicht liegt das an den Tafeln, vielleicht am Rosenthaler Platz. Oder an beidem.
Ich hoffe nun, einen Gast aus einer Notlage auf der Toilette befreien zu können, um damit eine Verbindlichkeit herzustellen, die in einer treuen Stammgastbeziehung münden wird. Der gerettete Gast würde von seiner Rettung in der Welt erzählen, eine bessere Marketingstrategie gibt es nicht. Ein kostenloses Testimonial!
Als ich an den Toiletten ankomme, sind alle Kabinen geöffnet. Ich habe die Chance verpasst. Sämtliche Kabinen sind sauber und aufgeräumt, nur in einer liegen Aluminiumfolie, ein Löffel und eine Spritze auf dem Boden. Während mein Instinkt mir längst sagt, was hier geschehen ist, versucht mein Verstand die Utensilien in normalverträgliche Muster zu pressen: Ein an Diabetes erkrankter Gast hat auf der Toilette ein Brot gegessen und dabei Kaffee getrunken.
Ich gehe hinab, um Milena das Ergebnis meiner Überprüfung mitzuteilen. Unten im Gastraum befinden sich Gäste, vor einem großen Anteil steht ein aufgeklappter tragbarer Computer. Sie scheinen zu arbeiten. Ich habe immer gemeint, dass mit dem Konzept des Cafés auch die Agentur- und Medienszene rund um den Rosenthaler Platz angesprochen werden sollte, die ihre Projekte hier besprechen würden. Wie die Aschingers das Brot, stelle ich den Gästen drahtloses Internet und Stromversorgung kostenlos zur Verfügung. Das macht kein anderer Gastronom in Berlin. Vielleicht aus gutem Grund, denke ich mir mittlerweile. Während der Renovierung fragte der Elektriker mehrmals nach, ob ich mir sicher sei, im Gastraum im Abstand weniger Meter jeweils eine Steckdose setzen zu wollen. Als ich ihm erklärte, dass die Steckdosen für tragbare Computer seien, deren Akkus aufgeladen werden müssten, fragte er ungläubig nach, ob ich ein Büro oder ein Café eröffnen wolle.
Fred schiebt den General durch den Eckeingang in den Gastraum. Der General – Fred spricht diese Bezeichnung Englisch aus, ich hingegen bevorzuge die deutsche Sprechweise. Der General ist ein Obdachloser, der in einem handbetriebenen Rollstuhl ohne jedes Extra sitzt, ein neueres Modell in gutem Zustand. Er ist vielleicht Mitte fünfzig, eher aber jünger, er hat einen extremen Rundrücken, so dass sein Oberkörper auf dem Weg zwischen Becken und Hals fast eine Neunzig-Grad-Kurve beschreibt. Der Kopf des Generals hängt deshalb nach unten. Um seine Umwelt visuell zu erfassen, dreht er ihn nach links oder rechts, der Blick direkt nach vorne ist schwer für ihn zu erlangen. Immer hat er ein Zigarillo im Mundwinkel, meist angeraucht, aber nicht angezündet.
Fred ist der beste Freund des Generals. Aber auch sein Betreuer. Meistens betreten sie gemeinsam das Café, Fred schiebt den General in seinem Rollstuhl hinein, er kümmert sich um alles. Fred ist ebenso obdachlos wie der General, er ist etwas größer als einen Meter siebzig,
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