Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
kann. Nicht, weil sie mich dabeihaben wollen.«
»Hauptsache, du vergisst das nicht.«
Roy grinste vor sich hin. Solange seine Mutter in der Nähe war, würde er nie Gefahr laufen, dem Größenwahn zu verfallen. Aber Marie gegenüber hatte er tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Er hatte ihr von der Einladung erzählt, denn es war besser, nach außen hin ehrlich zu sein, wenn man innendrin unehrliche Gedanken hatte. Sie war nicht gerade begeistert gewesen, aber nicht auszudenken, wie sie reagiert hätte, wenn sie es erst hinterher erfahren hätte.
»Diese Jane Lowe kocht auch nur mit Wasser.«
War er errötet? Wenn jemand ihren Namen aussprach, wurde ihm jedes Mal ganz heiß. Er beugte sich über seine Tasse, damit es so aussah, als würde der Dampf ihn erhitzen.
»Außerdem erzählen die Leute sich so einiges«, bemerkte seine Mutter.
»Ach ja, was denn?«
»Na ja, über sie und diesen Schriftsteller.«
Roy zuckte die Achseln. »Hier in Everdene wird doch im mer geredet«, sagte er. Er stellte seine Tasse ab. »Ich muss los.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sie nickte. Seine Mutter war keine Frau, die ihre Gefühle zeigte. Trotzdem wusste er, dass sie ihn liebte. Das war ein Warnschuss gewesen, und er wusste, warum sie ihn abgefeuert hatte. Aber es war ihm egal, ob er sich verletzte. So schlimm hatte es ihn erwischt.
Janes Zug kam um kurz nach neun in Paddington an. Sie eilte in die kleine Ladenzeile hinter dem Bahnhof und betrat ein Kaufhaus. Sie blieb wie angewurzelt stehen – Sommerschluss verkauf. Gedränge in den Gängen, überquellende Wühltische. Das war der reine Wahnsinn, dachte sie. Sich völlig überstürzt etwas zum Anziehen kaufen zu wollen für die Beerdigung eines Mannes, mit dem sie vor fast fünfzig Jahren eine verrückte Affäre gehabt hatte. Wieso machte sie das alles überhaupt? Vielleicht sollte sie das Ganze einfach vergessen. Sollte sich ein Taxi nehmen, zur Wallace Collection fahren, sich dort in aller Ruhe die Rembrandts und Fragonards und Canalettos ansehen und sich anschließend in dem großarti gen Café des Kunstmuseums eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte gönnen …
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
Jane drehte sich um und lächelte die Verkäuferin an.
»Ich brauche ein Kleid für eine Beerdigung. Etwas Einfaches. Es muss auch nicht schwarz sein. Tut mir leid, ich weiß, der Anlass ist ein bisschen makaber …«
Doch die junge Frau wirkte nicht im Mindesten irritiert. »Hier kommen alle möglichen Leute her, die ganz plötzlich etwas Bestimmtes brauchen. So ist das eben, wenn man in einer Filiale am Bahnhof arbeitet. Wir haben ein hübsches Kleid in Marineblau«, fuhr sie fort, während sie Jane mit pro fessionellem Blick betrachtete. »Ich sehe mal nach, ob es noch in Größe achtunddreißig da ist.«
Während die Verkäuferin sich auf die Suche machte, sah Jane sich halbherzig in der Schmuckabteilung um. Sie würde zu der Beerdigung gehen. Natürlich würde sie das tun! Sie wollte sich von dem Mann verabschieden, der eine so wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, ohne es zu ahnen. Sie seufzte. Selbst jetzt wusste sie noch, wie sie sich damals gefühlt hatte, wenn sie morgens über die Dünen zu seinem Haus gegangen war. Das Herzklopfen, das Erschaudern, wenn er ihr die Tür geöffnet und sie ihm in die Augen gesehen hatte. Augen, die sich für immer geschlossen hatten.
Jane stellte sich Terence in seinem Sarg vor. Plötzlich war sie von Gefühlen überwältigt, ihr wurde schwindlig, und ihr wurde schwarz vor Augen.
»Geht es Ihnen gut?« Die Verkäuferin stand wieder vor ihr, mehrere Kleider über dem Arm.
»Ja, ja. Alles in Ordnung.« Jane riss sich zusammen. »Dann werde ich die mal anprobieren.«
Während sie der Verkäuferin zu den Umkleidekabinen folgte, ging sie in Gedanken durch, was sie noch alles zu erledigen hatte. Sie musste sich Papiertaschentücher und ein Fläschchen von diesen homöopathischen Rescue-Tropfen und für alle Fälle auch eine Schachtel Paracetamol-Tabletten besorgen. Viel leicht blieb ja sogar noch so viel Zeit, dass Norman sie vor der Beerdigung irgendwo auf einen Gin-Tonic einladen konnte.
Die Party war ein voller Erfolg. Wie hätte es auch anders sein können an einem sonnigen Nachmittag Ende August? Die Kinder und die Hunde tollten am Strand herum, Würstchen wurden gegrillt, es gab reichlich zu trinken, alle waren entspannt und gut gelaunt. Freundschaften, die sich im Lauf des Sommers unter den neuen
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