Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
nach der Morgendämmerung fuhr Roy mit seinem alten Volvo-Kombi die steile, kurvige Straße hinunter, die von seinem Haus zum Strand führte. Er war schon unzählige Male hier entlanggefahren, und doch war er jedes Mal wieder hingerissen von der Aussicht, die sich einem bot.
An diesem Morgen donnerten die Wellen auf die Küste zu wie galoppierende Hirsche und warfen sich gegen die schroffen Felsen, dass es nur so schäumte. Weiter draußen war das Meer ruhig, ein silberner Spiegel, der nur darauf wartete, von der aufgehenden Sonne zum Leben erweckt zu werden. Es würde ein heißer Tag werden, das sagte ihm der Morgendunst. In wenigen Stunden würde diese Straße verstopft mit Ausflüglern sein, die es nicht erwarten konnten, an den Strand zu gelangen. Es würde den ganzen Tag Verkehrschaos herrschen.
Als er sich dem Parkplatz näherte, der zu den Strandhütten gehörte, sah er Jane an der Einfahrt stehen. Sie trug Jeans und einen leichten Regenmantel, und sie sah blass und bekümmert aus, so, als hätte sie schlecht geschlafen. Am Tag zuvor war sie zu ihm gekommen, um ihn zu fragen, ob er sie morgen zum Bahnhof fahren könne, denn sie wusste, dass er immer früh auf den Beinen war.
Er hatte selbstverständlich zugesagt.
»Vielen Dank«, sagte sie, als sie einstieg. »Ich muss mir in Paddington schnell etwas Anständiges zum Anziehen besorgen – hab ja nur Strandsachen mitgebracht. Wer hätte gedacht, dass ich plötzlich auf eine Beerdigung muss.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Ach, Terence Shaw«, sagte Roy beiläufig. Er erinnerte sich, dass Jane mal einen Sommer lang für den berühmt-berüchtigten Schriftsteller gearbeitet hatte. Er hatte sich oft den Kopf darüber zerbrochen, was damals zwischen den beiden vorgefallen war, denn dass da etwas passiert war, stand für ihn außer Frage.
Aber offenbar hatte Jane nicht vor, darüber zu reden. Sie klappte die Sonnenblende herunter, warf einen Blick in den Spiegel, schüttelte sich – »Gott, ich seh ja selbst schon wie eine Leiche aus!« –, klappte die Sonnenblende wieder hoch und wandte sich ihm mit einem strahlenden Lächeln zu.
»Eigentlich passt mir das gar nicht, dass ich so kurz vor der Party noch in die Stadt fahren muss. Ich habe Serena und Chrissie die Verantwortung für die Vorbereitungen übertragen.«
Roy lachte in sich hinein. »Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, sagte er.
»Wir werden sehen.« Jane hüstelte verlegen. »Serena hat sich gerade von Philip getrennt.« Sie holte tief Luft. »Wegen Adrian.«
Roy sah sie entgeistert an, dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße. Nachdem er die Neuigkeit einen Moment lang hatte sacken lassen, pfiff er durch die Zähne.
»Großes Familiendrama?«
»Nein, bisher ist alles ziemlich ruhig. Philip hat sich ins Auto gesetzt und ist nach Hause gefahren. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.« Sie brach ab und seufzte über ihre Familie, in der es im Moment wie in einer Seifenoper zuging. »Serena hätte Philip über kurz oder lang sowieso verlassen, und so bleibt sie wenigstens in der Familie. Und ich glaube, Spike wird es guttun; er hat schon immer sehr an ihr gehangen.«
Roy schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ja, ich weiß.« Jane nickte. »So was könnte man sich nicht besser ausdenken, wie es so schön heißt. Jedenfalls hoffe ich, dass es die Partystimmung nicht allzu sehr trübt. Immerhin ist es die letzte Party.«
Jane lehnte sich zurück. Warum machten sie diese Worte so wehmütig? Außerdem war es gar nicht die letzte Party, nur die letzte, die sie organisierte. Die Eigentümer der anderen Strandhütten würden die Tradition bestimmt fortsetzen. Alle freuten sich auf das Fest. Es war der unbestrittene Höhepunkt des Sommers. Es fand jedes Jahr am letzten Samstag im August statt, begann um drei Uhr nachmittags und dauerte meist bis drei Uhr am nächsten Morgen. Janes Mutter hatte die Tradition begründet, und Jane hatte sie als Mrs. Milton fortgeführt. Jeder musste eine Flasche Sekt und etwas für das Buffet mitbringen, entweder einen Salat als Beilage zum Schweinebraten oder einen Nachtisch. Die Kleiderordnung lautete »Abendgarderobe oder Strand-Schick«, wobei die ältere Generation sich meist für erstere und die jüngere für letztere Variante entschied. In den letzten Jahren war allerdings die Mode aufgekommen, einen Stilmix zu kreieren, was bedeutete, dass manche Männer in Smoking und Strandshorts erschienen. Diese Verhohnepiepelung der Kleiderordnung spiegelte
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