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Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer

Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer

Titel: Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Henry
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Danach konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Und hättest du deine Hand nicht ausgestreckt, wäre sie nicht abgestürzt. Du hast sie umgebracht.«
    Fiona trat einen Schritt zurück. »Nein!«, erwiderte sie bleich vor Schreck. » Du hast sie doch herausgefordert!«
    Tracey wandte sich an die anderen Mädchen, die vor Angst erstarrt waren. »Und keine von euch hat sie aufgehalten! Es hat euch doch allen Spaß gemacht zuzusehen, oder?«
    Da begriffen sie, dass man ihnen allen einen Vorwurf machen konnte, dass sie alle mitschuldig waren. Zwei Mädchen fingen an zu weinen.
    »Ist ja gut«, beruhigte Tracey sie und nahm die Sache in die Hand. »Wir sagen einfach, sie hätte plötzlich da oben gestanden. Wir sagen, wir hätten versucht, sie aufzuhalten, aber sie wollte nicht runterkommen. Wenn wir alle dasselbe erzählen, kriegt niemand Probleme.«
    Sie schaute eine nach der anderen durchdringend an. Alle nickten. Keine wagte zu widersprechen. Sie hatten alle zu viel Angst davor, dass man sie zur Verantwortung ziehen könnte. Tracey war jederzeit dazu in der Lage, einer von ihnen die Schuld in die Schuhe schieben. Sie war zu allem fähig, wenn es darum ging, die eigene Haut zu retten.
    Dann hörte man aus dem Erdgeschoss plötzlich hysterische Schreie.
    Die Schulleitung tat ihr Bestes, um den Vorfall als tragischen Unfall darzustellen. In der Kapelle wurde ein einfacher, aber sehr bewegender Gedenkgottesdienst abgehalten, und Tracey, der Star der Theatergruppe, verlas ein Gedicht, bei dem kein Auge trocken blieb. Diejenigen, die das schreckliche Ereignis miterlebt hatten, verloren nie wieder ein Wort darüber.
    Fiona fragte sich, wie viele von ihnen wohl noch daran zurückdachten. Sie selbst hatte nie aufgehört, sich Vorwürfe zu machen. Sie hätte sofort einschreiten und dem Unfug ein Ende bereiten sollen. Sie hätte Lindsay nie darin unterstützen dürfen, vor Tracey bestehen zu wollen. Und sie hätte sie nicht nervös machen dürfen, indem sie ihr die Hand hinstreckte. Sie fühlte sich dreifach schuldig. Die Erinnerung verfolgte Fiona seither Tag und Nacht – wie Lindsay auf dem Weg nach unten gegen das Geländer gekracht und dann auf dem kalten, harten Steinboden im Erd geschoss aufgeschlagen war. Sie konnte mit niemandem über ihre Schuldgefühle sprechen, aber irgendwann hatte sie gelernt, damit zu leben. Das war ihre Strafe, und sie würde bis an ihr Lebensende für ihre Schuld büßen.
    Als sie schließlich selbst Kinder bekam, wurde die Last unerträglich. Erst jetzt begriff sie, wie schrecklich Lindsays Tod für die Menschen gewesen war, die sie geliebt hatten, erst jetzt konnte sie ermessen, was es für eine Mutter bedeutete, ihr Kind zu verlieren. Von da an lebte sie ständig in der Angst, dass eines Tages jemand einem ihrer Kinder dasselbe antun könnte. Dass Lindsay auf grausame Art und Weise Gerechtigkeit widerfahren würde.
    Mit der Zeit stellte Fiona fest, dass der Alkohol es leichter machte. Dass schon ein einziges Gläschen den Schmerz und die nagenden Gewissensbisse linderte. Sie fand bald heraus, welche Menge sie brauchte, um die Erinnerungen auszuschalten und sich in einen glückseligen Zustand des Halbvergessens zu versetzen.
    Natürlich blieb die Dosis nicht immer gleich. Manchmal war eine größere Menge nötig, um die Erinnerungen abzuschütteln. Und manchmal sehnte sie sich einfach nur nach dem totalen Vergessen, wütend, dass sie dazu verdammt war, ihr Dasein auf diese Weise zu fristen, mit einer Lüge zu leben, und dann betrank sie sich bis zur Besinnungslosigkeit. Es war unerträglich schwer, das Geheimnis für sich zu behalten.
    Bevor sie die Hütte aufschloss, sah Fiona sich um. Sie wollte wieder mit ihren Kindern an diesen Strand kommen und sich an den einfachen Dingen erfreuen. Sie wollte nicht länger die Geisel einer Weinflasche sein. Wie oft hatte sie im Liegestuhl gelegen, den Kindern beim Spielen zugesehen und sich gefragt, ob irgendjemand es mitbekommen würde, wenn sie eine Flasche aus der Kühlbox nahm. Sie sehnte sich danach, frei zu sein von dieser Tyrannei, einfach dazu sitzen und Sandburgen zu bauen, ohne darüber nachzudenken, wie viel Zeit vergangen war. Sie wollte einfach nur glücklich sein.
    Sie wusste, wo sie Tracey Pike finden würde. Sie hatte ihren Lebensweg nach dem Verlassen der Schule aufmerksam ver folgt, zuerst über die alten Schulrundbriefe und später mittels eines Internet-Netzwerks, mithilfe dessen man alte Freunde und Bekanntschaften wiederfinden

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