Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
purzeln schienen. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund, als wollte sie die Worte wieder hineinschieben. Fiona hatte es lieber, wenn sie schwieg. Mit der Stille konnte sie umgehen.
Ihr verzweifelter Vater war redlich bemüht, sie für alles zu entschädigen. Hin und wieder fuhr er mit ihr nach London, ließ sie am riesigen Top Shop am Oxford Circus aussteigen und sagte ihr, sie könne sich kaufen, was sie wolle. Ein oder zwei Stunden später tauchte er wieder auf und zückte sein Scheckheft, ohne je ein Wort über die Summe zu verlieren. Ihre Freundinnen waren immer blass vor Neid, aber Fiona hätte auf der Stelle sämtliche Schuhe und Kleider der Welt gegen einen Tag Normalität eingetauscht, einen einzigen Tag, der nicht überschattet war von bösen Vorahnungen.
Als ihre Mutter zum dritten Mal versuchte, sich das Leben zu nehmen, war ihr Vater mit seinem Latein am Ende und schickte Fiona auf ein Internat. Da war sie vierzehn.
»Das hier ist kein Leben für dich, mein Schatz. Du musst zu viel Verantwortung tragen. Du solltest mit Mädchen in deinem Alter zusammen sein, dich amüsieren, Schallplatten hören und dich hübsch machen.«
Das Internat, das er aussuchte, war nicht besonders vornehm. Fiona war eine fleißige Schülerin, aber nicht sehr begabt. Der Lehrstoff wollte einfach nicht bei ihr hängenbleiben, und so schnitt sie bei allen Prüfungen ziemlich mäßig ab. Da die Schule jedoch an der Finanzkraft der Eltern interessiert war, wimmelte es dort von Mädchen, deren Eltern offenbar bereit waren, jeden Preis zu zahlen, um ihre Sprösslinge loszuwerden.
Sich an einer Schule neu zu integrieren war gar nicht so einfach, aber Fiona hatte erstaunlich schnell Fuß gefasst. Trotz ihres problematischen Familienlebens hatte sie ein sonniges Gemüt, und schon bald war sie nicht nur überall beliebt, sondern hatte sogar den Status quo der Schule durcheinandergebracht.
In ihrem Jahrgang hatte von jeher ein Mädchen namens Tracey Pike das Sagen gehabt. Tracey, da waren sich alle einig, war ein ordinäres Miststück, aber ihr Vater war stinkreich. Ihren Mangel an intellektuellen Fähigkeiten machte sie mit Durchsetzungsvermögen wett. Sie hatte ein lautes Mundwerk, einen großen Busen, dichte schwarze Locken und eine extrem niedrige Frustrationsschwelle. Sie regierte ihren Jahrgang mit eiserner Hand, diktierte die Mode und den Musikgeschmack, bestimmte, wer beliebt war und wer ein Außenseiter, und spielte alle gegeneinander aus.
Fiona fand schnell heraus, dass sie Tracey als Verbündete brauchte, um zu überleben. Indem sie ihr selbstbewusst und auf Augenhöhe begegnete, zog sie Tracey auf ihre Seite, und bald schon gelang es ihr, sie von ihren abstrusesten Ideen und heimlichen Schikanen abzubringen. Das machte Fiona in den Augen der Mädchen, die seit Jahren unter Traceys Tyrannei litten, zu einer Art Heldin, aber verglichen mit Fionas manisch-depressiver Mutter war Tracey geradezu ein Herzchen. Allerdings war Fionas Vertrauen in ihre neue Freundin nicht grenzenlos und durchaus realistischer Natur: Sie wurde den Verdacht nie los, dass Tracey nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, ihre Konkurrentin wieder auf ihren Platz zu verweisen.
Der unausweichliche Showdown fand schließlich an einem Samstagnachmittag statt. An den Wochenenden war das Internat stets wie ausgestorben. Draußen nieselte es unbarmherzig, und die Schülerinnen langweilten sich zu Tode.
Ein paar Mädchen machten sich auf dem Treppenabsatz vor dem Schlafsaal Toastbrote. Essen war ihre einzige Ablenkung. Ungeduldig drängelten sie sich mit einer Tüte weißer Brotscheiben um den Toaster. An dem Stück Butter, das sie aus dem Kühlschrank der Schulküche entwendet hatten, klebten immer mehr Krümel.
»Wetten, dass du dich nicht traust, auf dem Treppengeländer von einem Ende zum anderen zu balancieren«, sagte Tracey gerade zu Lindsay, einem pummeligen Mädchen, das schon häufig Opfer von Traceys Grausamkeiten gewesen war.
Lindsay saß in der Zwickmühle. Wenn sie kniff, würde sie als die Versagerin dastehen, für die Tracey sie hielt. Wenn sie die Herausforderung annahm, war das die ideale Gelegenheit, um sich beweisen zu können. Hilfe suchend schaute sie die anderen Mädchen an in der verzweifelten Hoffnung, eine von ihnen würde Tracey klarmachen, wie idiotisch ihr Ansinnen war. Sie befanden sich im vierten Stock. Wenn man sich über das Geländer beugte, konnte man vier Steintreppen sehen, die in die Eingangshalle hinunter
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