Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
ehemalige Mitschü lerin gerade gesagt hatte. Schon früher hatte es bei ihr immer geheißen, friss oder stirb. Hatte sie ihr mal wieder mit ge schickter Zunge das Hirn vernebelt? Oder hatte sie einfach recht? Fiona wusste langsam nicht mehr, was sie glauben sollte. Aber als sie auf das weite Meer hinausschaute, empfand sie plötzlich einen Hauch von Optimismus. Wenn Traceys Besuch eins bewirkt hatte, dann Fiona klarzumachen, wie gut sie es hatte. Einen Ehemann und Kinder zu haben, die sie trotz allem liebten. Zumindest nahm Fiona an, dass sie das taten. Tracey hatte niemanden. Und auch wenn sie sehr erfolgreich war, hatte sie bestimmt teuer dafür bezahlen müssen.
Fiona überlegte, Tim anzurufen, um sich zu erkundigen, wie es zu Hause lief. Sie könnte ihm vorschlagen, die Kinder am nächsten Tag nach Everdene zu bringen – ein Wochenende in der Strandhütte würde ihnen bestimmt gefallen. Das Wetter sah vielversprechend aus. Sie würde einkaufen und ein großes Picknick vorbereiten. Sie würden am Küstenweg zu ihrem Lieblingsstrand spazieren, den sie immer den »geheimen Strand« nannten, weil es dorthin ein ziemlich weiter Fußweg war, der den meisten Touristen zu anstrengend war, sodass man ihn in der Regel für sich allein hatte. Sie würde sich einen Neoprenanzug kaufen und zusammen mit den Kindern surfen. Das hatte sie sich schon lange gewünscht.
Fiona nahm das Telefon und wählte ganz aufgekratzt Tims Nummer. Beim zweiten Klingeln meldete er sich in geschäftsmäßigem Ton.
»Hallo?«
»Ich bin’s. Ich wollte nur mal hören … wie es dir so geht.«
»Gut.«
»Und den Kindern?«
»Auch.«
Fiona zögerte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so einsilbig und abweisend geben würde. Wollte er denn gar nicht wissen, wie es ihr ging? Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie seit ihrem Unfall keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt hatte. Sie hatte nicht gerade das Gefühl, dass es nach einer besonderen Leistung klang.
»Ich wollte fragen, ob du nicht Lust hättest, morgen mit den Kindern herzukommen. Es ist so schön hier. Und sie haben gutes Wetter vorausgesagt.«
»Wie bitte?« Er klang so fassungslos, als hätte sie vorgeschlagen, morgen mit einem Privatjet nach Dubai zu fliegen.
»Warum denn nicht? Daisy kann die Ballettstunde doch einmal schwänzen, und ich glaube, Will hat am Wochenende kein Spiel.«
»Fiona, ich glaube, du verstehst nicht ganz.«
Ihr lief es eiskalt über den Rücken bei seinem Ton.
»Wir können nicht länger die glückliche Familie spielen! Offenbar hast du keine Ahnung, wie sich dein Verhalten auf uns ausgewirkt hat. Du glaubst gar nicht, wie viel einfacher das Leben ist, seit du weg bist. Die beiden Tage haben völlig gereicht, mir darüber klar zu werden. Die Kinder sind entspannter. Ich kann mich entspannen.«
Ihr blieb fast das Herz stehen. »Was willst du damit sagen, Tim? Dass ich nicht mehr zurückkommen soll?«
»Zumindest vorläufig nicht. Ich glaube, wir beide brauchen eine Auszeit. Vielleicht solltest nach einer Wohnung Ausschau halten.«
Fiona zitterten die Knie. Sie setzte sich auf die Treppenstufe, ihr Mund wurde ganz trocken. »Aber verstehst du denn nicht? Ich bin doch auf dem besten Weg! Ich kriege das in den Griff! Ich habe seit dem Unfall keinen einzigen Tropfen angerührt, Tim. Ich schaffe das!«
»Klar. Bis zur nächsten Party. Oder bis zur nächsten Krise.«
Warum war er bloß so grob? Sollte er sie nicht eigentlich unterstützen?
»Meinst du das ernst?«
»Ich spreche nur aus Erfahrung.«
Plötzlich kam ihr ein entsetzlicher Gedanke. »Hör mal, Tim, du kannst mich nicht daran hindern, die Kinder zu sehen!«
»Nein. Aber ich denke, wir sollten mindestens eine Woche verstreichen lassen, bevor du zurückkommst. Wir alle müssen uns ernsthaft Gedanken machen.«
Fiona hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie lehnte den Kopf gegen den Türrahmen, denn sie fühlte sich zu schwach, um ihm zu widersprechen. Zu schwach, um überhaupt noch etwas zu sagen.
»Fiona?«
Sie drückte auf den roten Knopf, um das Gespräch zu beenden.
Noch eine ganze Weile blieb sie auf der Stufe sitzen und starrte auf das Meer hinaus. Egal, was im Leben passierte, Ebbe und Flut kamen und gingen. Wie ein Uhrwerk, das sich von nichts und niemandem beirren ließ. Das Meer interessierte es nicht, was mit ihr geschah, und offenbar auch sonst niemanden. Fiona betrachtete ihre Zehen. Der rosafarbene Nagellack blätterte bereits an den Rändern
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