Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
war am Morgen noch schmallippiger und kühler aufgetreten. Sie hatte die Kinder umarmt und ihnen erklärt, sie müsse ein paar Tage verreisen. Sie waren auf rührende Weise verständnisvoll gewesen, wenn auch ein bisschen verwirrt. Fiona fuhr sonst nie alleine weg.
Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt hatte. Nun saß Fiona im Zug und sah zu, wie die Leute an ihr vorbei zum Speisewagen gingen und später mit Papiertüten zurückka men, die nach getoasteten Brötchen und Speck dufteten. Ob sie dort auch Wein verkauften? Bestimmt. Kaum zu glauben, aber seit ihrem letzten Glas waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen.
Fiona schaute sich um. Ein junges Mädchen verschickte eine SMS nach der anderen, eine Geschäftsfrau hackte auf die Tastatur ihres Laptops ein, ein Mann stauchte am Handy seinen glücklosen Immobilienmakler zusammen, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, wer zuhörte. Keiner von ihnen schien nach einem Drink zu lechzen.
Sie durfte nicht bei der ersten Versuchung schwach werden! Sie musste zumindest nüchtern ankommen. Das würde sie auf jeden Fall schaffen. Fiona blätterte in der Zeitschrift, die sie am Bahnhof gekauft hatte, und ließ sich von den Modeartikeln ablenken. Anderthalb Stunden später stieg sie aus dem Zug und nahm sich am Bahnhofsvorplatz ein Taxi.
»Everdene Beach, bitte.«
Sie überlegte, ob sie den Fahrer bitten sollte, bei Marks & Spencer anzuhalten. Schließlich brauchte sie Lebensmittel und ein paar Knabbereien, um Körper und Geist während der nächsten Tage zusammenzuhalten. Aber im Grunde ihres Herzens wusste sie genau, dass sie, sobald sie das Marks & Spencer betrat, schnurstracks die Weinabteilung ansteuern und ein paar Flaschen einpacken würde. Besser, sie ging der Versuchung aus dem Weg.
Als das Taxi über das Kopfsteinpflaster vor dem Bahnhof rumpelte und in die Straße nach Everdene einbog, legte sie den Kopf zurück und schloss müde die Augen. Sie konnte nicht ewig vor ihrem Problem weglaufen. Sie durfte ihre Augen nicht vor dem schwarzen Loch verschließen. Das schwarze Loch, das sie ständig zu füllen versuchte, das sich jedoch immer wieder wie von selbst leerte, bis nichts mehr blieb als das Gefühl von Verlassenheit und Sinnlosigkeit.
Ihr Elternhaus war ein stiller, freudloser Ort gewesen mit schweren Vorhängen, die kein Licht hereinließen, und schwa chen Glühbirnen, die dunkle Schatten warfen. Fionas Mutter mochte kein Licht. Sie bekam davon Kopfschmerzen. Und so lebten Fiona, ihre Mutter und ihr Vater fortwährend in einer dämmrigen Welt des Zwielichts. Wenn Fiona nach draußen in die wirkliche Welt ging, musste sie gegen das grelle Licht die Augen zusammenkneifen.
Ihr Vater tat sein Bestes, um die Familie zusammenzuhalten. Neben seiner anstrengenden Arbeit als Bauingenieur kümmerte er sich um den Haushalt, Fionas Schulaufgaben und den Gesundheitszustand seiner Frau – was seinen Nerven ebenso viel abverlangte wie ihren. Er war stets voller Sorge, wenn er das Haus verließ, denn er konnte nie wissen, in welchem Zustand er seine Frau bei seiner Rückkehr vorfinden würde – himmelhoch jauchzend, alle Kleider im Schlafzimmer verteilt, die Musikanlage voll aufgedreht, bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, oder zu Tode betrübt, stumm und mit leerem Blick. Und er wusste selbst nicht, was schlimmer war.
Essen war Nahrungsaufnahme, reine Notwendigkeit, nie eine Quelle von Genuss oder Vergnügen. Mit elf hatte Fiona das Kochen übernommen, weil sie die ungenießbare Pampe, die ihr Vater ihnen vorsetzte, nicht länger ertragen konnte. Sie selbst zauberte auch nicht gerade Feinkostgerichte auf den Tisch, aber immerhin enthielten ihre Käsemakkaroni richtigen Cheddar und keine Tütensoße, die nach nichts schmeckte. Ihre Eltern waren zwar nicht besonders beeindruckt von ihren Kochkünsten, aber wenigstens schmeckte ihr selbst, was sie auf den Tisch brachte.
Ihre Mutter war eine schöne Frau, mit großen, traurigen Augen und einem dunklen Dutt, der immer perfekt saß. Sie war hochgewachsen, mit fürchterlich dünnen Armen und Beinen und knochigen Handgelenken, die aus den Ärmeln ihrer Jacken ragten, in die sie sich wickelte, da sie immerzu fror. Sie wanderte ziellos durchs Haus, meistens stumm, manchmal saß sie auch vor dem Fernseher, wo sie in der Regel einschlief. Ab und zu kam sie in Fionas Zimmer und fragte sie über ihr Leben aus, wobei ihr die Worte nur so aus dem Mund zu
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