Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
führten.
»Es sind doch bloß zweieinhalb Meter! Nicht mehr als der Schwebebalken in der Turnhalle.«
Tracey grinste. Ihr Killerinstinkt war erwacht. Ihr Team hatte am Morgen beim Korbball verloren, und vor ihnen lag ein weiterer langer Abend voller Langeweile.
»Hör schon auf, Tracey.« Fiona nahm sich mit dem Messer eine Portion Butter und verteilte sie auf ihrem Toast.
»Nein, lass nur, Fiona«, sagte Lindsay da. »Ich mach’s.«
Alle schwiegen betreten.
»Lindsay, du musst das nicht tun«, entgegnete Fiona und biss in ihren Toast.
»Natürlich muss sie das nicht tun«, sagte Tracey. »Aber damit könnte sie endlich beweisen, dass sie kein Jammerlappen ist.«
»Ich schaff das«, beharrte Lindsay. »Es ist wie auf dem Schwebebalken balancieren, das hast du ja selbst gesagt. Was soll daran schon schwierig sein?«
Mehrere Augenpaare betrachteten sie zweifelnd. Lindsay war keine Sportlerin. Sie war alles andere als leichtfüßig, und sie hatte kein Gleichgewichtsgefühl.
Fiona legte ihren Toast weg und trat vor. »Wenn du willst, mach ich’s zuerst«, bot sie an. »Um zu beweisen, wie einfach es ist.«
Die Situation war heikel, das wusste Fiona. Wenn sie Tracey in ihre Schranken verwies, würde das üble Folgen für Lindsay haben. Dies war Lindsays Chance, sich ein für alle Mal zu bewähren und Respekt zu verschaffen. Aber Fiona wollte ihr ein bisschen Solidarität bekunden. Wenn sie die Mutprobe ohne Angst anging, würde Lindsay es vielleicht auch ohne Panne schaffen.
Sie spürte Traceys Blick, als sie auf das Geländer kletterte. Tracey wusste nur allzu gut, dass die Machtverhältnisse sich zugunsten von Fiona verschoben hatten, und alle beteten, dass Lindsay die Mutprobe bestehen würde.
Fiona war sich ihrer Sache sicher. Sie stützte sich an der Wand ab, während sie ihr Gleichgewicht ausrichtete. Sie heftete ihren Blick auf den Treppenpfosten auf der anderen Seite. Die Entfernung betrug gut zwei Meter. Klar war es schwieriger, als auf dem Schwebebalken in der Turnhalle zu balancieren, denn das Geländer war nicht eben, sondern leicht gewölbt, und das Holz war glatter und rutschig von Möbelpolitur. Sie breitete die Arme aus und ging langsam und entschlossen los. Als sie am Ende ankam, reichte ihr eins der anderen Mädchen die Hand, damit sie herunterspringen konnte.
»Siehst du«, sagte Tracey triumphierend zu Lindsay. »Ist ganz einfach! Und jetzt du.«
Die anderen Mädchen tauschten verlegene Blicke aus. Wenn Fiona so etwas tat, war das in Ordnung, aber bei Lindsay war das etwas ganz anderes. Gespannt beobachteten sie, wie Lindsay sich innerlich bereit machte.
Mit Hilfe eines Stuhls kletterte sie auf das Geländer. Sie stützte sich länger an der Wand ab als Fiona und versuchte ihre Füße auszurichten.
Alle hielten die Luft an. Fiona kaute an ihrem Daumennagel. Es war wirklich einfach gewesen, das ließ sich nicht leugnen, aber wenn Lindsay das Gleichgewicht verlor, hatte sie keine Chance. Sie schaute zu Tracey hinüber, die das Schauspiel sichtlich genoss. Sie weidete sich an Lindsays Unbehagen. Wie wurde ein Mädchen bloß zu so einer Sadistin?
Lindsay ging los. Niemand sagte ein Wort, als sie einen Fuß vor den anderen setzte, die Arme weit ausgebreitet. Einen Moment lang sah sie genauso anmutig aus wie Fiona, entschlossen und selbstbewusst. Aber auf halbem Weg zögerte sie. Die Mädchen hielten die Luft an, als ihre Mitschülerin leicht zu schwanken begann. Lindsay schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und ging weiter, aber jetzt wirkte sie nervös. Ihre Augen weiteten sich vor Angst. Drei Viertel des Wegs hatte sie hinter sich.
Fiona konnte Lindsays Panik regelrecht spüren. Instinktiv streckte sie ihr eine Hand entgegen, damit Lindsay sie greifen und sich beim Herunterklettern helfen lassen konnte.
»Nein!« Lindsay zuckte zurück, sie wollte keine Hilfestellung, wollte beweisen, dass sie es allein schaffte. In genau diesem Augenblick verlor sie das Gleichgewicht und rutschte ab. Starr vor Schreck hörten sie, wie Lindsay unten auf dem Steinfußboden aufschlug.
Einen Moment herrschte Stille, dann stürzten alle ans Geländer und schauten nach unten. Lindsay lag reglos da, aus dem vierten Stock wirkte sie winzig. Ein Mädchen begann zu schreien. Ein anderes wollte die Treppe hinunterlaufen, um Hilfe zu holen, aber Tracey stellte sich ihr in den Weg und sah Fiona an.
»Du hast sie umgebracht«, sagte sie. »Du bist da raufgeklettert und hast ihr gezeigt, dass es geht.
Weitere Kostenlose Bücher