Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
tun.
Dann zog sie sich an, frisierte und schminkte sich. Wie viele tausend Male hatte sie dieses Ritual in ihrem Leben schon absolviert? Marisas Stil hatte sich, seit sie zwanzig war, kaum geändert. Das makellose Halstuch, der dunkle Eyeliner, der zurückhaltende Lippenstift, der Hauch Jicky hinter den Ohren und im Dekolleté, die seidenen Dessous, das schräg geschnittene Balmain-Kleid, die Ballerinas von Chanel.
Es klopfte an der Tür. Als sie öffnete, stand ein junger Kell ner mit einem Teewagen vor ihr. »Bon appétit«, sagte er.
Sie lächelte ihn an und drückte ihm fünf Pfund in die Hand. Nachdem er sich überschwänglich bedankt hatte und gegangen war, fragte sich Marisa, ob ihre Entscheidung wirklich klug war. Zwischenmenschlicher Kontakt brachte sie immer ins Schwanken …
Das Essen war vorzüglich. Es war das gleiche Menü, das sie mit Ludo damals im Restaurant gegessen hatte. Ein Steak, gut durchgebraten, wie sie es am liebsten mochte, dazu neue Kartoffeln und grüne Bohnen. Zum Nachtisch ein Stück Pfirsichpawlowa. Und dazu eine Flasche Chassagne Montrachet – Ludos Lieblingswein. Es wunderte sie, dass sie tatsächlich Hunger hatte.
Nach dem Essen schob sie den Teewagen auf den Korridor und räumte das Zimmer auf. Sie packte alle ihre Kleider, ihre Kosmetika, das Parfum und die Haarbürste wieder in den Koffer. Sie nahm eine Strandtasche heraus, vergewisserte sich, dass sie alles Nötige enthielt, stellte sie beiseite und schloss den Koffer. Dann machte sie das Bad sauber und hängte alle Handtücher auf. Sie glättete das Bettzeug, obwohl es noch in Ordnung war, da sie es gar nicht benutzt hatte. Alles sollte tadellos sein, wenn sie ging.
Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Sich selbst gegenüber war sie äußerst kritisch, aber diesmal nickte sie anerkennend. Dann nahm Marisa die Weinflasche, tat sie zusammen mit dem in ein Handtuch eingewickelten Glas in ihre Tasche und verließ das Zimmer.
Als sie das Foyer durchquerte, kam Steven mit besorgter Miene auf sie zu.
»Mrs. Miller, war das Abendessen zu Ihrer Zufriedenheit? Wünschen Sie noch irgendetwas? Vielleicht einen Likör auf der Terrasse? Es ist noch warm draußen, und wir haben Heiz pilze.«
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Vielen Dank, Steven. Ich möchte nur ein bisschen frische Luft schnappen. Sonst finde ich bestimmt keinen Schlaf. Ich gehe noch ein bisschen runter in die Strandhütte.«
Er eilte hinter den Rezeptionstresen, um den Schlüssel für sie zu holen. Er kommentierte ihre Entscheidung nicht. Verhielt sich absolut professionell.
Als sie den Schlüssel entgegennahm, schaute sie ihm ernst in die Augen. »Ich möchte Ihnen für alles danken, Steven.«
Er wirkte verblüfft. »Es ist mir immer ein Vergnügen, Mrs. Miller.«
»Nein, ehrlich. Dieses Hotel hat mir … uns … über die Jahre viele schöne Stunden und Tage beschert. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«
Dann ging sie.
Steven schaute ihr stirnrunzelnd nach. Merkwürdig, wie ausdrücklich sie sich bei ihm bedankt hatte. Irgendetwas stimmte da nicht.
Der Weg an den Strandhütten vorbei bis zu der, die zum Hotel gehörte, war weiter, als Marisa in Erinne rung hatte, und es war anstrengend, durch den Sand zu gehen. Schließlich streifte sie die Schuhe ab und ging barfuß weiter. Der Sand fühlte sich kühl an unter ihren Füßen. Sie hoffte, dass niemand sie erkennen würde. Sie hatten sich hier über die Jahre mit allen möglichen Leuten angefreundet. Nicht unbedingt Freunde, mit denen man das Jahr über in Kontakt blieb, aber Leute, die man überschwänglich begrüßte, wenn man sie wiedersah. Heute Abend wollte sie keine Gesellschaft.
An der Hütte angekommen, kämpfte Marisa einen Moment mit dem Schloss, bis die Tür schließlich aufging. Sie schaltete das Licht an. Alles war so vertraut. Die blau-weiß gestreiften Liegestühle. Der leicht muffige Geruch. Das alles raubte ihr den Atem. Mit zitternder Hand stellte sie ihre Tasche ab, überwältigt von Erinnerungen an die glücklichen Zeiten. Damals hatte sie nicht ahnen können, was die Zukunft für sie bereithielt.
Sie öffnete die Strandtasche, nahm einen kleinen tragbaren CD -Player heraus und schloss ihn an. Sie stellte die beiden Liegestühle hinaus und setzte sich dann in den einen von ihnen. Das Meeresrauschen und die Nachtkühle beruhigten sie. Der Mond schimmerte silbern, genauso wie an dem Abend auf dem kleinen, schattigen Platz vor dem Restaurant, als sie sich das erste Mal
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