Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
Publikum, sondern auch bei den Musikern zu einem der beliebtesten Dirigenten. Er entdeckte immer etwas in der Musik, das andere bisher übersehen hatten, und er versetzte seine Musiker in die Lage, es auch zu finden. Er wurde so etwas wie ein Star, ein Herzensbrecher in einer Welt, in der es eigentlich keine Herzensbrecher gab. Er war einer der wenigen Großen der klassischen Musik, der auch von der breiten Masse wahrgenommen wurde, denn er hatte mehr für die Popularisierung der klassischen Musik getan als jeder andere zuvor. Sein Markenzeichen war die schwarze Kleidung, die, als seine Popularität zunahm, von Armani beigesteuert wurde, und zwar kostenlos, wie manche behaupteten, da er der perfekte Repräsentant für die Marke war.
Und Marisa war glücklich. Ihren eigenen Traum hatte sie nicht verwirklichen können, aber sie sorgte dafür, dass Ludo sein ganzes Potenzial ausschöpfte. Als seine ständige Begleiterin in zeitloser Eleganz wurde sie beinahe genauso bekannt wie er. Es wurde oft von der Chemie gesprochen, die zwischen den beiden wirkte. Die perfekten Gegensätze, die anscheinend fantastisch harmonierten. Sie souverän und or ganisiert, er chaotisch und weltvergessen. Es war, als leb ten sie in einer eigenen kleinen Welt, zu der niemand sonst Zugang hatte. Sie hatten nur Augen füreinander. Sie brauchten nur einen Blick auszutauschen, und es war, als hätte ein ganzes Gespräch stattgefunden. Es war geradezu unheimlich.
Natürlich konnte Ludo auch anstrengend sein, wenn er nicht gerade seinen Charme für Publikum und Kameras versprühte. Andere Frauen fragten Marisa oft, wie sie ihn ertrug. Er war zerstreut, unzuverlässig, sprunghaft. Und grob. Furchtbar grob. Dummheit war ihm zuwider, und er nahm nie ein Blatt vor den Mund, auch nicht in der Öffentlichkeit. Nicht selten entstand betretenes Schweigen am Dinnertisch, wenn er mal wieder eine bissige Bemerkung gemacht hatte. Doch Marisa zuckte nie peinlich berührt zusammen, wie andere Ehefrauen es vielleicht getan hätten. Für sie war Ludos Meinung sakrosankt. Sie lächelte nur, wie eine gütige Mutter über ein unartiges Kind lächelte. Marisa hätte ihn sich nicht anders gewünscht. Er war ein Genie, und Genies besitzen, wie jeder weiß, Narrenfreiheit.
Anfangs begleitete sie ihn überallhin, aber als die Kinder kamen – eins, zwei, drei, vier kurz hintereinander –, war das nicht mehr möglich. Also richtete sie in einem der großen Zimmer in ihrer Villa am Stadtrand von Oxford eine Einsatzzentrale ein, von wo aus sie alles organisierte, und ließ ihn in die Welt ziehen, ohne Begleitung, aber mit einer säuberlich getippten Liste aller Dinge, die er auf keinen Fall vergessen durfte.
Ludo mangelte es nie an Verehrerinnen. Jede Frau, die ihn einmal in Aktion am Dirigierpult sah, wusste sofort, wie heißblütig er war. Marisa vermutete, dass jede Nacht mehrfach an seine Hotelzimmertür geklopft wurde, wenn er auf Tournee war. Doch sie weigerte sich, darüber nachzudenken, ob er die Tür jemals öffnete. Solange diese Frauen ihm nichts bedeuteten, solange sie austauschbar waren, akzeptierte sie, dass er auch, wenn er unterwegs war, Sex brauchte, ebenso wie er essen und trinken musste. Schließlich kehrte er immer zu ihr zurück.
Ihr zweiwöchiger Sommerurlaub war ein unverrückbares Ritual. Sie hätten überall auf der Welt Urlaub machen können, von Antigua bis Sansibar, als Gäste in den berühmtesten Hotels, aber sie liebten das altmodisch Englische an Everdene, die frische Luft, den endlosen Horizont. Und während dieser zwei Wochen vergaßen sie Musik, Flugzeuge und Konzertpläne und ließen es sich gut gehen. Sie mieteten jedes Jahr dieselbe Strandhütte, und Ludo widmete sich voll und ganz seiner Frau und seinen vier Kindern, kletterte mit ihnen in den Felsen herum, fing Krabben, ließ Drachen steigen und briet Würstchen auf einem Grill, den er aus einem alten Blecheimer gebastelt hatte. In Everdene verbrachten sie ihre glücklichste Zeit und kehrten jedes Mal erholt und erfrischt und in dem Wissen, dass der kleine Küstenort auch im nächsten Jahr wieder auf sie wartete, in die Wirklichkeit zurück.
Als Marisa und Ludo älter wurden und die Kinder ihre eigenen Wege gingen, setzten sie diese Tradition fort, ge wöhnten sich jedoch an, im Sands Hotel abzusteigen, wo sie etwas mehr Komfort genossen. Trotzdem verbrachten sie die Tage in der Strandhütte des Hotels, lasen Bücher, hörten Musik und tranken kühlen Weißwein.
Dann ging Ludo
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