Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
auf die Siebzig zu, aber er dachte nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Er besaß immer noch die Vitalität eines Mannes in mittleren Jahren. Er drang noch tiefer in die Materie ein, und seine Interpretationen selbst schwer zugänglicher Stücke waren besonders eindringlich und angesehen. Die silbernen Strähnen in seiner dunklen Mähne ließen ihn noch distinguierter wirken. Ihm wurde der Ritterorden verliehen. Er schrieb seine Autobiografie – das hieß, Marisa schrieb sie, denn Ludo hätte sich niemals so genau an die meisten Einzelheiten erinnert –, und sie wurde ein Bestseller. Er hatte ein eigenes Sonntagmorgenprogramm bei einem kommerziellen klassischen Radiosender. Ludo Mil lers Stern strahlte heller denn je.
Und dann schlug das Schicksal zu, nach einem Konzert in Toronto. Ludo brach zusammen, das Opfer eines schweren Schlaganfalls. Man flog ihn nach England zurück, wo er von den besten Spezialisten des Landes behandelt wurde, aber die Aussichten waren düster. Es bestand kaum Hoffnung auf Genesung. Er war fast komplett gelähmt, und die Ärzte waren pessimistisch. Er konnte nichts mehr ohne Hilfe tun, weder sprechen noch sich anderweitig verständlich machen. In einem einzigen Augenblick war ihr ganzes sorgenfreies Leben zunichtegemacht worden, ein kleines geplatzes Blutgefäß hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.
Nachdem die Ärzte erklärt hatten, sie könnten nichts mehr für ihn tun, konnte Marisa Ludo nicht zu sich nach Hause nehmen. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, ihn zu pflegen, denn er musste rund um die Uhr betreut werden. Wochenlang sah sie sich Pflegeheime an, aber keins schien ihr gut genug. Die meisten waren zwar in schönen alten Herrenhäusern untergebracht, die man komplett umgebaut hatte, aber anscheinend konnten solche Einrichtungen nur mit Hilfe exorbitant hoher Pflegesätze instand gehalten werden. Am Ende entschied sie sich für ein modernes Pflegeheim mit klaren Linien und einer Ausstattung auf dem neuesten Stand der Technik. Aber auch hier lag über allem der Geruch der Trauer und Verzweiflung. Wahrscheinlich war es die der Angehörigen, die zu Besuch kamen. Die Patienten selbst bekamen von diesem Elend wenig mit, vielleicht, weil sie mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden; sie existierten nur in einem Dämmerzustand, einer Routine ausgeliefert, die gnadenlos fortdauerte, bis das Schicksal sie von ihrem Leiden erlöste. Marisa wich allen Blicken aus, wenn sie Ludo besuchte. Sie wollte mit dem Leid der anderen nichts zu tun haben.
Sie besuchte ihn jeden Tag, obwohl es sie halb umbrachte. Zuzusehen, wie Ludo gefüttert wurde, wie eine Krankenschwester ihm langsam Löffel für Löffel Babynahrung einflößte, war das Schlimmste. Irgendein Reflex brachte ihn noch dazu zu kauen und zu schlucken, aber die Hälfte des Essens lief ihm trotzdem aus dem Mund. Marisa fühlte sich davon abgestoßen. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, das Füttern zu übernehmen. Das hätte sie als die schlimmste Erniedrigung für ihn empfunden.
Es quälte sie, dass niemand ihr sagen konnte, was in seinem Kopf vorging, ob er vielleicht bei klarem Verstand war und nur seine Gedanken nicht formulieren konnte. Flehte er sie etwa tief in seinem Innern an, ihn endlich von dieser Tortur zu erlösen? Oder war er sogar glücklich in seiner Dunstglocke? Dachte er immer noch an Musik? Schwirrten in seinem Kopf wundersame Töne herum, die er in eine Ordnung zu zwingen versuchte? Und wenn sein Verstand noch funktionierte – wie in aller Welt überlebte er dann seine Tage?
Hin und wieder kam ein Wort aus seinem Mund, aber es schien zu nichts in Zusammenhang zu stehen. Sie konnte nicht ermessen, wie lange er brauchte, um die Energie für das eine Wort aufzubringen. Als er »Karte« gesagt hatte, was hatte er damit gemeint? Etwas, das ihn im Moment beschäftigte, oder etwas, das vor Jahren passiert war? Oder hatten seine verschlungenen Synapsen dieses Wort anstelle eines anderen produziert?
Dann kam der Tag, an dem er klar und deutlich sagte: »Genug.« Dann hatte er es wiederholt. In einem Ton, der so bestimmt war, dass sie es weder ignorieren noch missverstehen konnte.
Marisa war verzweifelt. Wie konnte sie Gott spielen? Und sie stand nicht nur vor moralischen, sondern auch vor praktischen Problemen. Sie wusste, dass es Ludo nichts ausgemacht hätte, wenn sie ihn von seinen Qualen erlöste. Sie konnte ihn regelrecht hören: »Drück mir einfach ein Kissen aufs Gesicht, Herrgott noch mal, und
Weitere Kostenlose Bücher