Für immer untot
Schlupflöcher verkriechen und abwarten sollte, bis alles vorbei war.
In meiner alten Rolle hatte es eine gewisse Bequemlichkeit gegeben, die ich erst jetzt zu schätzen wusste. Die schlichte Wahrheit lautete: Wenn man Verantwortung übernahm, gab es Leute, die zu einem aufsahen und von einem erwarteten, dass man sie schützte und rettete. Ich war ans Weglaufen gewöhnt, das konnte ich richtig gut – andernfalls hätte ich mir längst die Radieschen von unten angesehen. Ich wusste, wie man sich eine neue Identität zulegte, sein Aussehen veränderte und untertauchte.
Leider wusste ich nicht, wie man andere Leute am Leben hielt.
Das Magazin war erneut leer, und ein leises Klick-klick forderte mich zum Nachladen auf. Ich drückte eine Taste, und als ich das leere Magazin fassen wollte, rutschte es mir aus der Hand, fiel auf den Schuh und von dort aus auf den Boden. Ich hob es auf und steckte fünfzehn Patronen hinein.
Das Handgelenk tat mir noch immer weh, aber es gelang mir trotzdem, die Hand einigermaßen ruhig zu halten. Nicht nur die Hand war ruhig, sondern auch der Rest von mir, und das erstaunte mich, rechnete ich doch damit, auseinanderzufallen. Nach unserer Rückkehr hatte ich mich vor dem Badezimmerspiegel gewaschen, den Waschlappen nass und kühl auf dem Nacken liegen lassen und darauf gewartet, dass ich mich auflöste. Doch bisher war das noch nicht geschehen, und langsam machte ich mir deshalb Sorgen.
Als ich etwa sechs gewesen war, hatte ich beobachtet, wie Alphonse blutbesudelt heimgekehrt war, mit einer Platzwunde, die von der Stirn fast über den ganzen Kopf reichte, wodurch er wie Frankensteins Ungeheuer aussah, bevor ihn der Doktor zusammenflickte. Erstaunlicherweise war Alphonse in recht guter Stimmung gewesen, denn die anderen Burschen, die er auf einem Basketballplatz zurückgelassen hatte, sahen viel schlimmer aus als er. Bei einem Revierstreit hatten sie zwei von unseren Jungs umgelegt, und da die Toten Alphonses Vamps gewesen waren, hatte es Tony ihm überlassen, die Angelegenheit zu regeln. Und Alphonse hatte die für ihn typische gründliche Arbeit geleistet.
Er hatte bemerkt, dass ich ihn von einer Ecke aus beobachtete, und im Vorbeigehen hatte er mir die Wange getätschelt und dabei einen roten Fleck auf meiner Haut hinterlassen. Eugenie hatte ihn später abgeschrubbt und mir dabei unabsichtlich mein erstes Schimpfwort beigebracht. Als ich älter wurde, reifte die Erkenntnis in mir heran, dass er damals ganz bewusst so voller Blut zurückgekommen war, um deutlich daraufhinzuweisen, dass er auf angemessene Weise Vergeltung geübt hatte. Aber als Sechsjährige hatte mich vor allem erstaunt, warum er so entspannt und guter Dinge gewesen war. Ohne all das Blut hätte man denken können, dass eine angenehme Nachtschicht hinter ihm lag.
Ihn hatte das Blut gewiss nicht gestört.
Ich legte erneut auf das Ziel an, das noch immer recht unberührt wirkte, obwohl der Schießpulvergeruch ziemlich intensiv geworden war. Ich dachte an Mirceas Gesicht, an seine Augen, in denen sich der flackernde Schein des Feuers widerspiegelte, an seinen von blauweißen Flammen umzüngelten Körper. Ich wünschte mir so sehr, ihn zu berühren, dass ich seine Finger wie einen Phantomschmerz am Handgelenk spürte. So musste es sich anfühlen, eine fehlende Hand nach etwas auszustrecken, ruhelos, leer und falsch. Und fast hätte ich den Rest meines Lebens mit dieser ruhelosen Leere verbringen müssen, weil jemand tödliche Stromschläge für eine angemessene Methode gehalten hatte, Hallo zu sagen.
Schüsse knallten, und Papier riss, und dann wiederholte sich das Klick-klick.
Rauch brannte mir in den Augen, als ich nachlud und mir wünschte, das Leben wäre so einfach gewesen. Einfach auffüllen, was leer war; einfach ersetzen, was man verloren hatte. Aber so einfach war das Leben eben nicht. Manche Dinge ließen sich nicht ersetzen. Man achtete besser darauf, dass man sie erst gar nicht verlor.
Es war alles so total verrückt und verdreht, dass ich befürchtete, die Dinge bald auf eine ebenso verrückte und verdrehte Weise zu sehen wie Alphonse.
An jenem Nachmittag machten Françoise und ich einen Abstecher zur Einkaufspassage und betraten das beeindruckende Marmor-und-Glas-Gebäude, in dem Augustine seinen Laden eingerichtet hatte. Bei der Konfrontation mit den dunklen Magiern war mir eins klar geworden: Ohne Mircea hätte ich nicht einmal dreißig Sekunden überlebt. Wenn ich hoffen wollte, den Codex in die
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