Fuer immer zwischen Schatten und Licht
war.
Professor Osorio, der zu Recht befürchtete, die Aufmerksamkeit der Klasse bald vollständig zu verlieren, nahm Abschied von den Naturwissenschaften und versuchte sein Glück mit der Sagenwelt.
„Seit jeher gilt der Blutmond als böses Omen. Schon die alten Ägypter hielten ihn für den Vorboten von Krieg und Leid, und in China sagt man noch heute, dass bei einer totalen Mondfinsternis ein Drache den Mond zu verschlingen droht und durch Lärm in die Flucht geschlagen werden muss. Oft heißt es auch, dass unter dem Blutmond Dämonen ihr Unwesen treiben, Tote sich aus ihren Gräbern erheben und Vampire und Werwölfe zum Leben erwachen.“
Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille, bis Eric und Co. ein Geheul anstimmten. Auch unter einigen Mädchen breitete sich nun Heiterkeit aus – der arme Professor Osorio hatte wohl keine Ahnung, dass Vampire und Werwölfe heutzutage nichts mehr waren, was man mit Unheil in Verbindung brachte. In Windeseile bildeten sich drei Fraktionen, in denen die Vorzüge der Schauspieler aus Twilight, Vampire Diaries und True Blood erörtert wurden.
„Eric ist soo sexy“, seufzte ein Mädchen aus der dritten Fraktion, und unser Mitschüler Eric, der nicht verstanden hatte, worum es ging, warf sich stolz in die Brust.
Von da an war die Kurseinheit so gut wie gelaufen. Hilflos plapperte Professor Osorio vor seiner Schautafel weiter, doch obwohl ich mir wirklich alle Mühe gab, konnte ich über den Lärm meiner Klassenkameraden hinweg kein einziges Wort verstehen. Erst ganz am Schluss der Stunde verschaffte sich der Biolehrer wieder Gehör, indem er dreimal in die Hände klatschte.
„Es ist sicherlich unnötig zu erwähnen, aber pro forma möchte ich nun doch klarstellen, dass es Jungen und Mädchen selbstverständlich nicht gestattet sein wird, gemeinsam in einem Zelt zu schlafen.“
Damit versetzte er den meisten seiner Zuhörer (und ihrer Faszination für Astronomie) einen so gewaltigen Dämpfer, dass die letzten paar Minuten vergleichsweise ruhig über die Bühne gingen. Ich hätte schwören können, dass ein schadenfrohes kleines Grinsen um Professor Osorios Lippen spielte, als er den Unterricht beendete.
Jinxys Begeisterung konnte man jedoch nicht so einfach trüben. Auf der Heimfahrt im Bus sprach sie nur von dem Campingtrip, und schließlich gelang es ihr, mich mit ihrer Vorfreude anzustecken. Während ich von der Haltestelle heimwärts ging, grübelte ich sogar darüber nach, ob ich es wagen konnte, meinen Snoopy-Pyjama mitzunehmen. Ich wollte gerade die Haustür aufsperren, als mein Blick auf den Schlitz im Briefkasten fiel, aus dem mir die Werbeprospekte schon beinahe entgegenquollen. Wahrscheinlich war wieder einmal ein Buchpaket für mich geliefert worden, das nun einen Großteil des Platzes einnahm. Mit der üblichen Spannung bestellfreudiger Leseratten öffnete ich die Klappe und wurde gleich darauf von einem Schwall bunt bedruckten Papiers übergossen. Obwohl es mich in den Fingern juckte, den verheißungsvollen Karton im hinteren Teil des Briefkastens hervorzuholen, ging ich seufzend in die Hocke und sammelte das verstreute Werbematerial ein.
„Kann ich dir helfen?“
„Ja, bitte“, sagte ich erleichtert, bevor ich einen Stoß Prospekte in Richtung der Hand hielt, die sich mir entgegenstreckte. Dann erst sah ich hoch, und es war, als würde meine glückliche kleine Welt, die sich soeben noch um Schulausflüge und Packlisten gedreht hatte, plötzlich zum Stillstand kommen.
„Guten Abend, Lily“, sagte Sam.
2. Kapitel
Ich starrte ihn an, die Arme immer noch voller Papier, und konnte nur daran denken, wie normal er aussah. Eine widerspenstige blonde Locke hing ihm in die Augen, genau wie damals, als ich in der Cafeteria zum ersten Mal mit ihm gesprochen hatte. Zu seinen Jeans trug er eines seiner typischen Karohemden aus Flanell. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber diese merkwürdige Vertrautheit erschreckte mich mehr, als wenn er mir völlig fremd geworden wäre.
„Was tust du hier?“, fragte ich tonlos.
„Ist das nicht offensichtlich?“, gab Sam zurück. „Ich besuche eine alte Schulfreundin, die ich viel zu lange nicht gesehen habe.“
Während er sprach, versuchte ich unauffällig die Post unter meinem Ellenbogen einzuklemmen und nach meinem Handy zu greifen, das in meiner Jackentasche steckte – doch Sam schaute demonstrativ nach unten, sodass ich mitten in der Bewegung erstarrte.
„Nein“, sagte ich etwas lauter und
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