Fuer immer zwischen Schatten und Licht
hoffte, damit seine Aufmerksamkeit wieder auf mein Gesicht zu lenken. „Ich meinte, wie hast du es überhaupt geschafft, zu entkommen?“
„Wegen guter Führung entlassen.“
Zu meiner Überraschung gelang mir ein spöttisches Schnauben. „Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe!“
„Tja“, erwiderte Sam nachdenklich und legte den Kopf schief, „du hast dich doch in der Vergangenheit als sehr vertrauensselig erwiesen, nicht wahr?“
„Das hat sich aber geändert, nachdem du mich beinahe umgebracht hättest!“
Sam lächelte charmant. „Ach, lass doch mal die alten Geschichten“, sagte er und trat einen Schritt auf mich zu.
Ich wich zurück, wobei die Prospekte erneut zu Boden flatterten. „Wenn du noch einen Zentimeter näher kommst, schreie ich nach meinen Eltern!“, drohte ich und verfluchte insgeheim das Zittern in meiner Stimme.
„Sei doch nicht albern“, antwortete er in gleichbleibend heiterem Tonfall. „Alle Fenster sind dunkel. Wir wissen beide, dass gerade niemand zu Hause ist.“
Wie zum Beweis für seine Vermutung streckte er die Hand aus und fuhr damit über meine Wange. Seine Fingerspitzen malten eine eisige Spur auf meine Haut, und ich presste mit aller Kraft meine Kiefer zusammen. „War übrigens gar nicht so einfach, dich alleine anzutreffen“, sprach Sam sanft weiter. „Ich habe es schon gestern versucht, aber da wurde ich ständig von Augenzeugen gestört. Dein Freund bereitet mir sogar noch größere Schwierigkeiten: Bei der Schule kann ich nicht auf ihn warten, weil man mich dort erkennen würde, und sonst war nirgendwo eine Spur von ihm zu entdecken. Also muss ich dich darum bitten, ein Treffen zwischen uns zu arrangieren.“
„Ich lasse dich nicht mal in die Nähe von Rasmus!“, stieß ich hervor.
In der nächsten Sekunde stürzte ich nach hinten, und mein Kopf schlug gegen die Hauswand. Sam hatte seinen Unterarm quer über meinen Hals gelegt, sodass ich röchelnd nach Atem rang. „Ich glaube, dass du es doch tun wirst. Alten Freunden darf man nichts abschlagen – und ich soll doch nicht zu Ende bringen, was ich damals im Steinbruch mit dir begonnen habe, oder?“ Der Druck an meiner Kehle verstärkte sich. „Hast du mich verstanden, Lily?“
Ich erwiderte seinen Blick, unfähig zu antworten oder auch nur zu nicken, doch der panische Ausdruck in meinem Gesicht schien ihm zu genügen. Abrupt zog er seinen Arm weg, und mein Oberkörper sackte nach vorne. Während ich mich japsend auf meine Knie stützte, durchquerte Sam seelenruhig den Vorgarten, als hätte er mir tatsächlich nur einen kleinen Freundschaftsbesuch abgestattet.
„Morgen um halb zehn vor dem Netherworld würde es mir passen“, rief er über die Schulter zurück, ehe er in einen Joggingschritt verfiel. Trotz seiner lockeren Bewegungen hatte er im Handumdrehen das Ende der Straße erreicht. Dort wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
Mit bebenden Fingern schob ich den Schlüssel ins Schloss und blinzelte dabei gegen die Hitze an, die in meine Augen drängte. Erst nachdem ich die Tür hinter mir zugeworfen hatte und daran zu Boden gerutscht war, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Wirre Gedankenfetzen schossen mir durch den Kopf, und es dauerte eine Weile, bis ich einen davon festhalten konnte:
Anrufen. Ich musste irgendjemanden verständigen und um Hilfe bitten, aber wen? Meine Eltern? Die Polizei? Und was sollte ich sagen – etwa: „Ein Bekannter von früher ist hier aufgetaucht und führt bestimmt etwas Böses im Schilde. Woher ich das weiß? Nun, er kommt direkt aus der Hölle …“
Meine Finger verkrampften sich um das Handy, während mir die Ausweglosigkeit meiner Lage vollständig zu Bewusstsein kam. Es gab nur eine Person, eine einzige Person auf dieser Welt, die mir möglicherweise Glauben schenken würde … und genau diesem Menschen durfte ich nichts von alledem erzählen. Rasmus würde nicht zulassen, dass Sam erneut hierherkam und mich bedrängte. Er würde das Treffen durchführen wollen, obwohl er in seinem jetzigen Zustand rein gar nichts gegen Sam ausrichten konnte. Welche Chancen hatte ein Normalsterblicher schon gegen einen Dämon?
Als hätte Rasmus meine Gedanken gelesen, läutete in diesem Moment mein Telefon. Das Geräusch ließ mich zusammenfahren, und mein „Hallo?“ klang eher wie ein Hilferuf als wie ein Gruß.
„Lily? Alles in Ordnung mit dir?“
Die Besorgnis in seiner Stimme zu hören, ließ die Tränen nur noch schneller über meine
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