Für Nikita
jetzt nicht in der schmutzigen Küche, betrunken, wütend und hilflos.
»Warum? Warum nur?« murmelte sie und wischte sich mit der Faust die Tränen der Wut ab.
Soja Astachowa ließ den Kopf auf den Tisch fallen, sank in schweres, trunkenes Vergessen und hörte nicht, wie jemand leise
die Stahltür ihrer Wohnung öffnete.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die achtzigjährige muntere Hutzelgreisin Nadeshda Semjonowna Guschtschina war bereit, Leontjew jederzeit zu empfangen.
»Sind Sie der große Hauptmann, der bei der Identifizierung dabei war? Leontjew heißen Sie? Ich erinnere mich sehr gut an Sie.
Kommen Sie vorbei, ich würde mich freuen.«
Nadeshda sammelte sorgfältig alles, was in der Presse über ihren Zögling erschien. Sie legte einen beachtlichen Stapel Zeitungen
und Zeitschriften auf den Tisch.
»Aber mitnehmen dürfen Sie das nicht. Lesen Sie es hier.
Ich habe auch noch Kassetten mit Radio- und Fernsehsendungen. Die spiele ich Ihnen gern vor.«
»Sie haben ein Videogerät?« Der Hauptmann staunte.
»Aber ja! Ein japanisches, das hat mir Nikita zum Achtzigsten geschenkt, und Kassetten mit meinen alten Lieblingsfilmen«,
sagte die alte Kinderfrau stolz.
»Hat er sie oft besucht?« fragte Leontjew, bevor er sich in die Lektüre vertiefte.
»Einmal in der Woche auf jeden Fall. Er ist schließlich mein Einziger. Eigene habe ich nicht, weder Kinder noch Enkel. Ich
habe schon Jura, seinen Vater, von den Windeln an großgezogen.«
»Wann war Nikita das letztemal bei Ihnen?«
»Vor den Maifeiertagen. Ganz kurz, nur zwanzig Minuten.«
»Können Sie sich erinnern, worüber Sie gesprochen haben, in welcher Verfassung er war?«
»Er war erschöpft und ein wenig gereizt, er sagte, er müsse einen unangenehmen Job zu Ende bringen, aber dafür brauche er
erst ein bißchen Urlaub. Er wollte für eine Woche nach Antalya.«
»Ja«, Leontjew nickte, »das mit Antalya weiß ich. Aber das mit dem Job, das ist mir neu. Was für einen Job kann ein Schriftsteller
zu erledigen haben?«
»Ja, das wunderte mich auch. Er war ja gut im Geschäft, hat anständig verdient mit seinen Büchern. Und statt sich an einen
neuen Roman zu setzen, macht er sonstwas.«
»Hat er vielleicht gesagt, wenigstens angedeutet, was für eine Art Job das war?«
»Ich hab natürlich versucht, es rauszukriegen. Aber er hat nur abgewinkt und gesagt, das würde mich nicht interessieren. Dabei
weiß er genau, daß ich mich für alles interessiere, was ihn betrifft, für jede Kleinigkeit. Aber wennNikita über irgendwas nicht reden will, dann kriegt man es nicht raus aus ihm.«
»Hatte er denn viele solche Geheimnisse, die man nicht aus ihm rausbekam?« fragte Leontjew lächelnd.
»Nein.« Nadeshda schüttelte den Kopf. »Vor mir nicht. Mir hat er von klein auf alles erzählt. Selbst Dinge, die er vor seinen
Eltern verbarg. Ach, möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Danke.« Leontjew nickte. »Da sage ich nicht nein.«
Die Zeitungen und Zeitschriften waren streng chronologisch geordnet. Obenauf lag die Mainummer der Monatszeitschrift »Kaleidoskop«.
Bunter Hochglanzumschlag, tonnenweise Werbung, ein Minimum an Text, die üblichen Themen: an erster Stelle Sex, Pikantes aus
dem Leben der derzeitigen Sexsymbole, dann ein bißchen Politik, Mode, Kosmetik, Mystik, mehrere Diäten zum schnellen Abnehmen,
ein Horoskop. Und in der Mitte über eine ganze Doppelseite ein Interview mit dem Schriftsteller Viktor Godunow.
Leontjew überflog den glatten, inhaltsleeren Text. Offenkundig gab Godunow nicht gern Interviews. Leontjew begriff auch rasch,
warum. Die Journalisten verschiedener Medien stellten immer dieselben Fragen: »Warum schreiben Sie Krimis? Woher nehmen Sie
Ihre Sujets? Wie denken Sie über den aktuellen Buchmarkt? Ihr Verhältnis zur Konkurrenz? Was bedeutet es für Sie, daß Sie
in einem Jahr berühmt geworden sind? Was sind Ihre nächsten Pläne?«
Im Vorwort zu einem Interview in einer zweifelhaften Jugendgazette hieß es, Godunow weigere sich, Fragen zu seinem Privatleben
zu beantworten. Es sei lediglich bekannt, daß er einmal verheiratet war, seit sieben Jahren geschieden sei und eine zwölfjährige
Tochter Mascha habe.
»Ich bat den Schriftsteller, von seiner ersten Liebe zu erzählen«,berichtete der Journalist. »Aufmerksame Leser werden feststellen, daß bei aller Vielfalt der Figuren in seinen Büchern immer
wieder ein und derselbe Frauentyp vorkommt, mit verschiedenen Namen, aber
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