Für Nikita
sie Kaffee, und fünf Minuten später brachte sie Leontjew das dampfende Kännchen und eine saubere Tasse.
»Ich würde Ihnen ja auch noch die Kassetten vorspielen, aber ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig erschöpft. Lesen Sie ruhig
zu Ende, lassen Sie sich Zeit. Aber die Kassetten lieber das nächstemal, einverstanden?«
Der Hauptmann war einverstanden. Er trank seinen Kaffee aus, las das letzte Interview zu Ende und wartete darauf, daß sie
nach der Einäscherung fragen würde, doch sie verlor darüber kein Wort.
Als Leontjew das Haus verließ, wußte er, daß er am nächsten Tag um halb elf wiederkommen würde. Er wollte sichunbedingt die Frau namens Nika ansehen. Er war so gut wie sicher, daß sie hellbraune Augen hatte, langes, dunkelblondes Haar,
dichte schwarze Augenbrauen und Wimpern, und daß sie schlank und feingliedrig war, mit schlankem Hals und stolz erhobenem
Kopf.
Olga Rakitina packte mechanisch die Koffer aus und hängte die Kleider in den Schrank. Sie war ein halbes Jahr nicht zu Hause
gewesen und versuchte, jetzt nur an das zu denken, was sie im Augenblick tat.
Juras Anzug muß gebügelt werden, er ist ganz zerknittert. Nikita besitzt kein einziges anständiges Hemd. Seine Wildlederschuhe
müssen zur Reparatur, sie brauchen neue Absätze.
Gut, daß sie ihren Sohn nicht tot gesehen hatte. Das war sehr gut – im Leben war alles möglich. Mama hatte im Krieg eine Gefallenenmeldung
für den Vater bekommen, und 1954 war er plötzlich zurückgekehrt. Er war in einen Kessel geraten und dann in Gefangenschaft,
und 1945 wurden die aus dem Lager Mauthausen befreiten Kriegsgefangenen mit Viehwaggons direkt in ein Lager bei Magadan geschafft.
Olga polierte den Schreibtisch ihres Sohnes mit einem weichen Lappen, nahm ein feuchtes Antistatiktuch aus einer Plastebox,
um den Monitor und die Computertastatur abzuwischen, und hielt plötzlich inne.
»Juri! Komm bitte mal her!« rief sie so laut, daß ihr Mann, der die Küche saubermachte, zusammenzuckte und den Schrubber fallenließ.
»Sieh mal, was sind das hier für Flecke?« Sie beugte sich über die Tastatur und nahm vorsichtig die weiße Computermaus in
die Hand.
Die Flecke waren trocken und dunkelbraun.
»Genau solche sind auch auf dem Waschbecken im Bad«,sagte Juri Rakitin nachdenklich. »Und noch was: Unterm Büfett ist ein Stück Linoleum rausgeschnitten. Jemand hat das Büfett
verrückt. Es ist nur noch ein ganz kleiner Spalt zu sehen, das heißt, das Büfett wurde abgerückt und irgendwie wieder rangezogen,
zurück an die Wand. Ich habe in den Spalt gesehen. Der Hintereingang ist nicht mehr vernagelt. Hinterm Büfett liegen Nägel
und eine Zange. Und unter der Bank hab ich eine große Supermarkttüte gefunden. Eine Stange Zigaretten, ein Päckchen Kaffee,
Zucker, abgepackter Schinken und Käse. Außerdem Zahnpasta, eine Packung Einmalrasierer und Seife. Ein Kassenbon liegt auch
dabei. Die Sachen wurden am fünften Mai gekauft, um zwei Uhr nachts. Sag mal, wo hast du denn die Disketten hingeräumt?«
»Ich habe keine gesehen.« Olga blickte verwirrt auf den Tisch. Nikita hatte viele Disketten, und normalerweise lagen sie alle
auf dem Tisch herum. Aber jetzt lag dort keine einzige.
Juri machte alle Schubladen auf und zu.
»Unsere Wohnung wurde durchsucht, Olga.«
»Vielleicht die Miliz?« fragte Olga unsicher. »Vielleicht haben sie ja doch Ermittlungen eingeleitet?«
»Nein. Das war nicht die Miliz. Ich habe bei der Staatsanwaltschaft angerufen. Es gibt keine Ermittlungen. Ein Unfall …«
Olga ging ins Schlafzimmer und zog die Kommodenschublade auf. Die Schatulle mit dem Familienschmuck war noch da. An den Wänden
hingen mehrere wertvolle Gemälde, Originale von Repin, Serow und Wasnezow. Auch die Ikonen aus dem achtzehnten Jahrhundert,
das antike Porzellan, das Tafelsilber – kurz, alles, wofür sich Diebe hätten interessieren können, war unversehrt.
»Ich habe schon nachgesehen.« Juri schüttelte den Kopf. »Es ging ihnen nicht um Wertsachen. Sie haben in Nikitas Schreibtisch
etwas gesucht, sie haben alle Disketten, Tonkassettenund Filme mitgenommen. Vielleicht auch Papiere. Sonst haben sie nichts angerührt.«
Olga ließ sich schwer aufs Sofa sinken.
»Juri, wir beide können nur vermuten, was geschehen ist. Für mich war von Anfang an klar, daß das kein Unfall war. Aber wer
kann jetzt noch irgend etwas beweisen? Und wozu?« Sie sprach leise und heiser, und ihr Mann fürchtete, sie
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