Für Nikita
anwesend.
Die medizinische Öffentlichkeit reagierte mit sarkastischer Häme: Tja, was tun, wenn irgendwelche dummen Puten Scharlatanen
vertrauen? Doch diesmal war die »dumme Pute« die Frau eines hochrangigen Beamten, und die Unterwassergeburt hatte ein Schüler
der Astachowa betreut.
Überdies brach zur gleichen Zeit in Moskau auch noch eine Diphteriewelle aus, befördert durch den neumodischen Verzicht auf
Schutzimpfungen, und natürlich fanden sich Widerlinge, die daran erinnerten, daß DoktorAstachowa an der Spitze der Anti-Impfkampagne gestanden hatte.
Soja spürte immer deutlicher, daß sie ihr einträgliches neumodisches Steckenpferd aufgeben mußte. Die professorale Leuchte
spürte das ebenfalls und verschwand nach Amerika. Soja konnte sich nicht entschließen, ihrem Beispiel zu folgen. Sie hatte
zu teuer für Moskau bezahlt, um es nun gegen Los Angeles einzutauschen und wieder bei Null anzufangen.
Im übrigen landete der Professor nach einigen Jahren im amerikanischen Gefängnis, beschuldigt, eine Schwangere vergewaltigt
zu haben. Im Verlauf des Prozesses stellte sich heraus, daß niemand wußte, in welcher Disziplin er eigentlich Professor war;
er konnte nicht einmal ein Hochschuldiplom vorweisen.
Soja zog sich klug und vorsichtig zurück. Von der berühmten »Astachowa-Theorie« mochte sie sich nicht lossagen, denn die war
ihr Brot, ihr ganzes Leben. Sie wechselte von Unterwassergeburten zu einem weniger gefährlichen Thema und konzentrierte ihre
wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf gesunde Lebensweise, gesunde Ernährung und den Kampf gegen Alkohol und Nikotin.
Vorträge über gesunde Ernährung hatten unvermindert Erfolg. Die Zahl derer, die ihre Gesundheit stärken wollten, die nach
Jugend, Schönheit und Selbstbewußtsein strebten, nahm nicht ab. Auch nach Terminen bei Doktor Astachowa standen die Interessierten
Schlange, obwohl diese nicht billig waren.
Ljudmila starb an ihren langjährigen Zipperlein und den Tränen um ihren Sohn. Anton schrieb weiterhin Briefe aus dem Lager.
Soja schickte ihm hin und wieder ein Paket. Ihr Leben war ausgefüllt, sie entbehrte nichts. Sie kaufte sich schicke neue Möbel,
einen Lada und selbstverständlich eineGarage dazu sowie eine schöne Datscha in einer ruhigen Siedlung. Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Als an einem
kalten Novemberabend plötzlich ein dünner, zahnloser Mann in Wattejacke auf der Schwelle ihrer schönen Wohnung stand, staunte
sie sehr, als sie in ihm ihren geliebten Neffen erkannte.
Er weinte, wischte sich die Tränen übers ganze Gesicht wie ein Kind. Sie stellte sich vor, was passierte, wenn publik würde,
daß Doktor Astachowa einen solchen Verwandten hatte. Sie, die Verkörperung physischer und psychischer Gesundheit, ein Quell
der Lebensenergie, war die leibliche Tante eines Mörders, noch dazu eines Mörders mit sexueller Perversion.
Erst wollte sie ihm Geld geben und ihn nach Powarowka zurückschicken. Sollte er dort in aller Stille leben; wenn er materielle
Unterstützung brauchte, war sie bereit, ihn nach Kräften …
»Tante, ich will bei dir wohnen«, schluchzte Anton, »da kann ich nicht, zu Hause. Ich sehe die ganze Zeit Xenija.«
»Wen? Ach so, ja, natürlich.«
»Die Omas auf der Bank hören auf zu reden, wenn ich vorbeikomme, und tuscheln hinter meinem Rücken, keiner grüßt mich. Das
halte ich nicht aus. Nimm mich zu dir!«
»Gut, Antoscha, ich denke drüber nach.«
Anton weinte nun lautlos, den Kopf auf die Arme gelegt; nur seine Schultern bebten. Soja erinnerte sich plötzlich daran, wie
die krummen Beinchen über den abgewetzten Läufer gelaufen waren. Er hatte spät laufen und sprechen gelernt, aber er war so
niedlich gewesen, und vor allem hatte er Soja sehr geliebt. Mehr als seine Mutter.
Soja Astachowa schluchzte zu ihrer eigenen Überraschung auf, wischte sich eine verstohlene Träne ab unddachte, daß sie außer Anton auf der ganzen Welt keine Menschenseele habe.
»Ich werde dir eine Wohnung mieten und dir Geld geben. Aber paß auf, daß du mich nicht enttäuschst. Ich bin nämlich ziemlich
bekannt.«
Ach, hätte sie doch früher gewußt, wohin diese Tränen der Rührung führen sollten, wie teuer sie es bezahlen würde, daß sie
dieses unnötige Gefühl in ihr Herz gelassen hatte, daß sie Mitleid mit ihrem Neffen gehabt hatte, ja, ihn sogar liebte. Sogar
eine Wölfin besaß einen Mutterinstinkt.
Hätte sie das früher gewußt, dann säße sie
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