Für Nikita
immer erkennbar an den hellbraunen Augen und dem
langen, dunkelblonden Haar. Sie hat schlanke Finger und einen langen Hals. Der Hauptheld liebt sie treu, aber unerwidert,
hat allerdings auch andere Frauen. Ich wollte wissen: Ist das eine Art Idealbild, oder gibt es ein reales Vorbild? Doch ich
bekam keine Antwort. Nun – ein Krimiautor darf seine Geheimnisse haben.«
Nur die ersten Interviews hatten etwas Lebendiges. Kluge, nicht banale Fragen, ausführliche Antworten. Man spürte, daß die
Gesprächspartner sich sympathisch waren und Interesse füreinander hatten. Aber solche Journalisten gab es nur zwei: Nikolai
Sigs und Tatjana Wladimirowa. Mit ihnen wollte Leontjew sich einmal unterhalten.
Nadeshda brachte den Kaffee und blickte Leontjew über die Schulter. Er las gerade eine Rezension in der »Nowye Iswestija«
mit dem Titel »Können wir überhaupt ohne Dostojewskitum?«.
»Viktor Godunow, Absolvent des Literaturinstituts, phantasiert mit sichtlichem Vergnügen über die dunklen Seiten des Lebens,
die er nur vom Hörensagen kennt. Mit derselben Authentizität könnte er außerirdische Zivilisationen beschreiben. Sollte Viktor
Godunow je mit einem gedungenen Killer zu tun haben, was Gott verhüte, kann man ihm nur wünschen, dieser möge wenigstens halb
so edelmütig sein wie die Mörder in seinen Büchern.«
Unterschrieben war dieses Meisterwerk der Literaturkritik mit Maria Tjulpanowa.
»Eine dumme Kuh. Klingt wie bestellt«, murmelte Leontjew vor sich hin.
»Verzeihung, was haben Sie gesagt?« Nadeshda Semjonowna goß ihm vorsichtig aus einem antiken Silberkännchen Kaffee in eine
Tasse aus so hauchdünnem Porzellan, daß er sie kaum anzufassen wagte.
»Ein sehr häßlicher Artikel«, erklärte Leontjew.
»Häßlich? Nicht doch, das ist ein inbrünstiger Aufschrei. Da findet jemand vor Neid keinen Schlaf. Und das schadet der Gesundheit.
Wissen Sie, viele Krankheiten rühren vom Neid. Neid zehrt am Menschen, verbrennt ihn bei lebendigem Leib.«
»Wie hat denn Nikita auf diesen Aufschrei reagiert?« Leontjew lächelte schief.
»Er hat den Verfasser aufrichtig bedauert. Sollte er auf einen Kranken wütend sein?«
»Ich finde, Sie sind zu großmütig.« Leontjew lachte.
»Geht es denn ohne Großmut? Ein Neider bestraft sich selbst schlimmer, als ein anderer das könnte. Ich sage Ihnen doch, Neid,
das ist eine Krankheit, das ist langsamer Selbstmord.«
»Oder ein Mordmotiv.« Leontjew nahm einen Schluck Kaffee. »Sagen Sie, kannte Nikita diese Tjulpanowa zufällig? Der Artikel
ist sehr persönlich gehalten. So heftig kann man niemanden hassen, den man überhaupt nicht kennt – bloß weil er mehr Talent
hat als man selber.«
»Tjulpanowa ist ein Pseudonym. In Wirklichkeit ist der Autor ein Mann. Persönlich kennt ihn Nikita nicht, aber in der Zeitung
arbeitet ein alter Freund von ihm. Er hat Nikita angerufen, bevor der Artikel erschien, und ihn vorgewarnt. Natürlich unter
dem Siegel der Verschwiegenheit. Der Artikel war nämlich bestellt.«
»Und den richtigen Namen des Autors hat der Bekannte nicht genannt?«
»Leider nicht. Ehrlich gesagt, ich habe mit Nikita auchnicht viel darüber gesprochen. Für ihn war das am nächsten Tag schon vergessen. Möchten Sie rauchen?« Sie hatte bemerkt, daß
Leontjew eine Zigarette in der Hand hin und her drehte, und stellte ihm einen Aschenbecher hin. »Genieren Sie sich nicht.
Das macht mir nichts aus. Hören Sie, Andrej Michailowitsch, Sie haben mir das Wichtigste noch nicht gesagt. Soviel ich weiß,
wurde kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Aber Sie sind Kriminalist und stellen sehr zielgerichtete Fragen. Wie ist das
zu verstehen?«
»Das ist so zu verstehen, daß ich persönlich nicht an einen Unfall glaube und herauszufinden versuche, ob es nicht doch Schuldige
gibt.«
»Das heißt, Sie schließen einen Mord nicht aus?«
»Richtig.«
»Und Sie versuchen, den Mörder zu finden?«
»Ja.«
»Danke, mein Lieber.«
»Wofür?«
»Dafür, daß es Ihnen nicht egal ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig es ist, daß jemand den Mörder findet oder
es wenigstens versucht.«
»Haben Sie jemanden in Verdacht?«
»Nein, nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden in Verdacht.«
»Aber es gab doch Feinde, Mißgünstige? Sie haben gesagt, Nikita habe vor Ihnen nichts verborgen.«
»Er hatte keine Feinde«, sagte Nadeshda hastig und wandte sich ab.
»Wieso?« Leontjew hob die Brauen.
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