Für Nikita
Oder aufs Dach.
Neben dem Fenster der Resnikowa verlief das Regenrohr, das mit ziemlich stabilen Schellen an der Wand befestigt war. Derselbe
Effekt: Man konnte runter oder aufs Dach. Schlimmstenfalls gelangte man in fünf Minuten von einer Wohnung in die andere, ohne
den Flurnachbarn zu begegnen. Auch von unten wurde man sicher kaum bemerkt. Beide Fenster gingen auf eine Ödfläche, die unmittelbar
hinter dem Haus begann, eine langjährige, stockende Baustelle. Da war nachts kein Mensch.
In Hauptmann Leontjews Kopf kreisten immer neue Varianten, eine absurder als die andere. In solchen Fällen tröstete er sich
mit den Worten des großen Sherlock Holmes: Bei der Untersuchung eines Verbrechens gibt es eine Methode, die nie versagt. Wenn
man alle unmöglichen Erklärungen ausschließt, dann ist das, was übrigbleibt, die Antwort auf die Frage, egal, wie verrückt
es klingt.
Als Russow die ruhige, ausgeglichene Stimme seiner Frau im Hörer vernahm, wurde ihm ein wenig wohler.
»Wie fühlst du dich, Nika?«
»Alles in Ordnung, Grischa. Verzeih mir, ich habe mich flegelhaft benommen. Bin weggelaufen, ohne dir was zu sagen. Danke,
daß du einen Wagen zum Flughafen geschickt hast.«
»Nein, du mußt mir verzeihen. Ich bin im Moment zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Ich verstehe, daß du nach
dem, was passiert ist, nicht einfach auf einem Bankett Champagner trinken kannst, als sei nichts geschehen. Wann kommst du
zurück? Gleich nach der Beerdigung? Oder bleibst du noch ein paar Tage in Moskau?«
»Ich weiß noch nicht. Ich ruf dich an.«
»Fühlst du dich nicht einsam in der leeren Wohnung?«
Sie wollte antworten: Ich bin nicht allein. Sina Resnikowa ist bei mir. Erinnerst du dich an sie? Doch statt dessen sagte
sie: »Nein, Grischa. Im Gegenteil. Ich bin jetzt gern eine Weile allein.«
»Ja, natürlich. Ich liebe dich sehr, Nika. Ich habe schon Sehnsucht.«
»Na, dafür hast du jetzt gar keine Zeit.«
Sie verabschiedeten sich zärtlich. Vor ihr auf dem Couchtisch lag eine druckfrische Zeitung. Gestern auf dem Flughafen war
ein Reporter der Regenbogenpresse aufgetaucht. Sie hatte an seiner Jacke eine Plastikkarte mit dem Namen seines Blattes gesehen
und ihm ein Interview verweigert, sich aber nicht vor der aufdringlichen Kamera verstecken können.
Schon im Flugzeug hatte Sina gefragt, ob sie mitkommen könne zu Nika – ihre eigene Wohnung war ja abgebrannt, wer weiß, wie
lange sie noch bei ihrer Mutter wohnen müßte. Wenn sie also ein paar Tage bei Nika bleiben könne,würde sie sich sehr freuen. Zumal sie sich acht Jahre nicht gesehen hätten, und nun auch noch dieser Schmerz. Ihr gemeinsamer
Schmerz.
»Ja, natürlich. Grischa kommt in nächster Zeit kaum nach Moskau.«
Als das Flugzeug gelandet war, hatte Nika einen schwarzen Mercedes auf die Gangway zufahren sehen.
»Die holen mich ab. Du solltest lieber mit dem Taxi zu mir fahren.«
Sina hatte nicht widersprochen und keine Fragen gestellt. Irgendwie war es für beide selbstverständlich, daß Russow von ihrer
Begegnung nicht erfahren sollte.
Allerdings waren sie zusammen aus dem Flugzeug gestiegen und sofort auf den Reporter mit der Kamera gestoßen.
Früh am Morgen war Nika extra zum Kiosk gelaufen. Sie betrachtete ihr Foto und dachte, daß wahrscheinlich auch ihr Mann gerade
diese Zeitung vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Nun wußte er, daß sie zusammen mit Sina Resnikowa nach Moskau geflogen
war. Er würde erraten, daß sie die angebliche frühere Patientin war, die sich Zutritt zu ihrer Sprechstunde verschafft hatte.
Auf eine direkte Frage hätte sie ihm geantwortet, hätte ihm alles erzählt, auch von den anonymen Briefen. Doch er fragte nicht.
Und sie erzählte nichts – das war ohnehin nichts fürs Telefon.
Aber warum eigentlich nicht? Am Telefon fiel das Lügen viel leichter. Ihr jedenfalls. Grischa konnte ihr inzwischen auch direkt
ins Gesicht lügen, ganz aufrichtig, mit solcher Liebe und Zärtlichkeit, daß man gern ein vertrauensseliges Dummchen wäre.
Als ihr mit zwanzig zum erstenmal Grischas besonderer Blick aufgefallen war, hatte sie bei sich nur spöttisch gelachtund gedacht: Ich gefalle dir? Ja, das habe ich schon bemerkt. Das tut natürlich gut, aber was weiter?
Weiter konnte nichts sein. Seit sie fünfzehn war, liebte sie Nikita Rakitin. Und er liebte sie. Trotzdem kam irgendwie kein
richtiges Eheleben zustande.
Nika hatte immer ihre eigene Kindheit vor
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