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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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erklärt, er würde nie wieder sprechen. Und nun spricht er seit fünfzehn Tagen
     wieder, klar und deutlich.«
    »Klar und deutlich?« Der Arzt lächelte herablassend. »Irgendwas von Gelber Schlucht, Stadt der Sonne. Fieberphantasien.«
    »Das haben Sie damals auch gesagt und behauptet, die Worte seien ihm zufällig rausgerutscht und hätten nichts zu bedeuten,
     von Wiederherstellung könne keine Rede sein.Höchstens, wenn sich das wiederholen sollte, dann vielleicht. Und nun hat es sich wiederholt!«
    »Wieder Gelbe Schlucht und Stadt der Sonne. Begreifen Sie doch endlich, es hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Seit Ihrem
     letzten Besuch geht es ihm wesentlich schlechter. Übrigens, vor einigen Wochen waren Sie mit einem gewissen Rakitin hier.
     Schreibt der zufällig Krimis?«
    »Wie kommen Sie darauf?« fragte Jegorow, der sich rasch abgewandt hatte.
    »Er sieht dem Schriftsteller Viktor Godunow sehr ähnlich.«
    »Nein, er ist kein Schriftsteller. Er ist mein Freund und kannte Fedja schon als Baby, darum hat er ihn besucht.«
    »Ein paar unserer Ärzte und Schwestern haben ihn gesehen, und alle haben gesagt, er sieht aus wie der Schriftsteller Viktor
     Godunow, darum frage ich. Damals, als Sie mit Ihrem Freund Rakitin hier waren, hat Fedja das von der Gelben Schlucht und der
     Stadt der Sonne gemurmelt, und Sie waren beide sehr erschüttert. Verstehen Sie mich recht, ich möchte nicht, daß Sie sich
     vergebliche Illusionen machen. Sie sind selbst äußert erschöpft und krank. Überlegen Sie doch, wenn Ihnen etwas passiert,
     was Gott verhüte, dann ist Fedja ganz allein. Niemand außer Ihnen braucht ihn.«
    »Ich verstehe.« Jegorow nickte und zog einen Geldschein aus der Tasche. »Danke, Doktor. Ich bitte Sie sehr, wenn er wieder
     anfängt zu sprechen, rufen Sie mich sofort an, zu jeder Tages- und Nachtzeit.«
    »Auf jeden Fall.« Der Arzt steckte routiniert das Geld ein.
    Jegorow ging hinaus in den nassen Krankenhauspark und sog den Geruch frischen Lindenlaubs ein. Der Arzt konnte denken, was
     er wollte – Fedja hatte wieder gesprochen, alsowar er auf dem Weg der Besserung. Daran zweifelte Jegorow nun nicht mehr.
    Was habe ich von Ihrer grausamen Wahrheit, Doktor? Warum sagen Sie mir immer wieder, daß mein Kind ein hoffnungsloser Fall
     ist, daß sein Verstand nicht wiederkommt und er jeden Augenblick sterben kann, dachte Jegorow, während er die nasse Allee
     entlanglief. Ich will Ihre Wahrheit nicht hören. Sie hätten mir lieber was vorlügen sollen, dann hätte ich die letzten vier
     Jahre besser überstanden. Zum Onkologen soll ich gehen? Ich bin sicher, Ihr Spezialist findet bei mir irgendwas Scheußliches
     und deutet mir taktvoll an, daß ich bald sterben werde.
    Gesundheit brauchte Jegorow jetzt so nötig wie noch nie. Und Geld. Die Rente, die er von der Aeroflot bekam, war sehr gering.
     Er hatte einige Ersparnisse, noch vom Verkauf der Datscha, doch die schmolzen mit jedem Tag dahin. Ansonsten besaß er außer
     seiner Wohnung lediglich den dunkelvioletten Lada. Vor ein paar Jahren hatte er überlegt, ob er die alte Blechbüchse nicht
     verkaufen sollte, dann aber beschlossen, damit noch zu warten. Jetzt konnte er ein Auto gut gebrauchen, besonders ein so altes,
     unauffälliges.
    Hin und wieder flammte in ihm ein boshaftes Feuer auf: Wäre es nicht vernünftiger, er verzichtete auf seine Pläne und griff
     zu simpler Erpressung, holte aus dem Hauptschuldigen eine Summe heraus, von der er und Fedja viele Jahre leben konnten?
    Wäre Nikita nicht umgekommen, hätte Jegorow diese Variante vielleicht für das sinnvollste gehalten. Doch Rakitins Tod hatte
     in ihm etwas geweckt, das er längst tot gewähnt hatte. Jegorow wollte Rache. Die Gerechtigkeit wiederherstellen. So viel Böses
     konnte, durfte nicht ungestraft bleiben.
    Nein, er wünschte seinem Hauptfeind nicht öffentliche Entlarvung, Gericht und Gefängnis. Selbst der Tod erschienihm als zu milde Strafe. Für Grischa Russow sollte die Welt zusammenbrechen, genau so wie damals für Jegorow.
    »Du denkst, du hast eine Familie?« murmelte er, während er am Krankenhauszaun entlangschritt, in Gedanken Russows selbstzufriedenes
     Gesicht vor sich. Du irrst. Du hast niemanden. Der einzige Mensch auf der Welt, der dir etwas bedeutet, dem du vertraust,
     den du liebst wie dich selbst, wird dein Richter und dein Henker sein.
     
    Nika suchte in ihrem Notizbuch nach der Nummer ihres ehemaligen Kommilitonen Petja Lukjanow. Petja arbeitete

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