Fuer Wunder ist es nie zu spaet
übernachten.
Eine ganze Nacht. Gestern Abend, nachdem Maja gegangen war, hat er
sich ganz nackt vor dem großen Goldspiegel aufgebaut. So was hat er noch nie
gemacht, jedenfalls nicht so. Aber jetzt stand er einfach da, mit einem
richtigen Ständer, und es hat sich einfach nur gut angefühlt. Verdammt gut. Er
hat gespürt, dass er verdammt gut ist. Und dann ist er ganz nah an den Spiegel
getreten, hat sich selbst in die Augen gesehen und gegrüßt. Mein lieber Alex,
verdammt, du bist gut. Du kannst poppen, du kannst schwimmen, du kannst alles.
Du bist nicht aufzuhalten.
Und jetzt will er einfach nur mit Maja in dieses Boot und weg. Wow,
er hat so viel Energie, da muss er sich gleich noch eine halbe Tomate
reindrücken.
Karin starrt schweigend in ihre Tasse, als wollte sie sie
hypnotisieren. Ihr Gesicht ist ganz weiß. Sie ist noch nicht bereit für diese
Sache, nichts in ihr ist bereit. Sie spürt, wie alle Farbe ihren Körper
verlassen hat, auch das Blut, und nun sitzt nur noch ein leerer Körper am
Frühstückstisch. Sie schließt die Augen und hört die Stimme von Jens, der mit
Josefin spricht und sie um etwas Frischhaltefolie bittet, um die Butterbrote
einzupacken.
Sie muss daran denken, wie sie heute Nacht geschlafen haben, die
sanfte Stimme von Jens, als sie aufgewacht ist, und wie er ihr seinen
Jogginganzug geliehen und gefragt hat, wie es ihr geht.
Karin öffnet die Augen und spürt sogleich den Wind, der sie
austrocknet. In der Entfernung hört sie das unruhige Stampfen der Damhirsche,
die, aufgeschreckt von dem Wetterumschwung, am Ufer hin und her laufen.
Jens packt das Essen in eine Tasche. Josefin steht auf und spricht
davon, dass sie das Boot fertig machen werde und dass es nun an der Zeit sei,
aufzubrechen. Aber Karin kann sich nicht bewegen. Sie versucht, ihre Beine zu
heben, aber es geht nicht, sie ist völlig erstarrt, sie kann sich wirklich
nicht bewegen.
»Jens.«
Jens sieht von dem Rucksack auf, den er fast fertig gepackt hat.
»Ich kann mich nicht bewegen.«
»Gar nicht?«
»Nein. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht zu Papa fahren.«
»Doch, das kannst du. Ich werde dich tragen.«
Josefin kommt mit den Schwimmwesten. Vorsichtig streift Jens Karin
eine der Westen über, knöpft sie fürsorglich zu und zieht alle Gurte fest. Dann
setzt er seinen Rucksack auf, krempelt die Ärmel hoch und hebt Karin vom Stuhl,
drückt sie an seinen Körper und schwankt zum Steg hinunter. Karin spürt, wie
ihr Kopf an Jens’ Brust ruht, wenn er schaukelt, dann wackelt auch ihr Kopf.
Und sie spürt Tränen, warme Tränen, die ihr die Wangen hinunterlaufen.
49
W ir ziehen jetzt mal los.«
Maja lehnt
sich an den breiten Türrahmen und schaut in die Bibliothek hinein.
»Ja, ja, bis später dann.«
Pelle liegt mit der Zeitung von gestern auf der Chaiselongue und
blättert demonstrativ, während er antwortet. Die Fensterscheiben vibrieren von
dem stürmischen Wind. Schweigen. Man hört nichts als den Wind. Maja wartet noch
in der Tür, plötzlich fällt es ihr schwer zu gehen. Sie nähert sich auf
Zehenspitzen der Chaiselongue und bleibt stehen. Pelle liest, zögernd setzt
Maja sich auf den Rand des Sofas. Sie möchte die Hand auf Pelles Brust legen,
hält aber inne, als sie sein Maurerhemd berührt. Pelle blättert ungerührt in
der alten Zeitung. Ängstlich hebt Maja wieder die Hand und legt sie jetzt
oberhalb von Pelles Brust ab.
»Liebst du mich wirklich?«
Pelle sieht sie nicht an, er blättert, während das Fenster klappert.
»Warum fragst du das?«
Maja schluckt.
»Tust du es?«
»Maja . . .«
Endlich lässt Pelle die Zeitung sinken, doch nur, um sie mit einem
müden Blick zu bedenken. Maja spürt einen Kloß im Hals. Hier liegt Pelle in der
unbeschreiblich schönen Bibliothek. All die verstaubten, edlen Bücher, der
große gewebte Teppich in den verschiedensten Grüntönen, das Fenster, das auf
den Vänersee weist, der in diesem Moment unendlich wirkt. Und dann Pelle, der
ganz nah bei ihr ist und den sie doch nicht erreichen kann.
»Ich muss es aber wissen. Jetzt. Bedeute ich dir etwas? Oder bin ich
nur eine nette Galionsfigur?«
»Wovon redest du?«
»Ich rede von unserem Leben! Hier! Ich habe das Gefühl, als wäre ich
nur eine Statistin in einem Theaterstück über dein phantastisches Leben. Oder
ein Hund. Ich kriege Futter, ein Dach über dem Kopf und werde hinter den Ohren
gekrault. Aber ich will mehr! Ich brauche mehr. Und ich will wissen: Was
bedeute ich
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