Fuer Wunder ist es nie zu spaet
holt er
sein Fernglas, das über dem weißen Schreibtisch mit den blattgoldverzierten
Beinen an einem Nagel hängt. Nun kann er aus der anderen Richtung über den
Vänersee blicken. Nein, Josefin und die anderen sind nicht zu sehen, sie sind
bereits verschwunden, genau wie Alexander und Maja. Er ist jetzt ganz allein
auf der Insel.
Schnell hängt er das Fernglas wieder an den Nagel, eilt die Treppe
hinunter und hinaus auf den Schlosshof. Dann holt er die Streichholzschachtel
vom Gasherd in der Küche und geht wieder hinaus.
50
B ist du bereit?«
Karin schüttelt erschöpft den Kopf. Die Fahrt über das Wasser
hat ihr ein bisschen Kraft gegeben, aber doch nicht genug, um aufzustehen. Die
ganze Fahrt hat sie wie ein Sitzsack auf Jens’ Schoß gelegen, und er hat
derweil ruhig und gleichförmig über ihr Haar gestrichen.
Karin starrt die hellgelben Wände mit schlecht gerahmter,
bedeutungsloser Kunst an. Wartezimmer. Krankenhaus. Der Geruch von Krankheit,
Tod und Desinfektionsmittel. Nein, sie ist nicht bereit und wird es auch nie
sein.
»Warte kurz. Ich muss was regeln, okay? Bleib einfach hier sitzen.«
Karin nickt müde und sieht, wie Jens zu einer Krankenschwester geht,
mit ihr spricht und dann in einem der Zimmer verschwindet. Ihr erster Reflex
ist, wegzurennen, aus dem Krankenhaus, keine Ahnung, wohin, einfach nur weg,
weg, das ist die Hauptsache. Aber die Beine tragen sie nicht, nichts trägt
mehr. Sie sitzt auf einem fusseligen Zweiersofa, vor ihr auf dem Tisch liegen
ein paar Farbstifte und Papier. Da hat wohl ein Kind gesessen und Schweinchen
oder was auch immer gezeichnet. Karin nimmt sich ein Blatt Papier und einen
Stift und schreibt ganz oben »Papa« hin. Sie kaut ein wenig auf dem Stift herum
und schreibt dann eilig, während das Papier auf ihrem Bein herumrutscht:
»Papa, du hast mein Leben zerstört. Du hattest die Möglichkeit, mich
zu retten, aber du hast sie nicht ergriffen. Stattdessen hast du zum Alkohol
gegriffen. Wieder und wieder und wieder. Und du hast dich jedes Mal, wenn du
zum Alkohol gegriffen hast, einen großen Schritt von mir entfernt. Irgendwann
sind es ziemlich viele Schritte geworden. Am Ende gab es dich gar nicht mehr.
Ich konnte dich nicht sehen, und du hast mich auch nicht gesehen. Ich hasse
dich für das, was du getan hast, und für das, was du nicht getan hast. Jetzt
sitze ich hier und versuche, mich an etwas Gutes zu erinnern, was wir gemeinsam
erlebt haben, und sei es auch noch so klein, aber es fällt mir nichts ein.
Jetzt denke ich hauptsächlich daran, dass ich auch allein bin, mit einer
Tochter, die mich nicht haben will. Die sich auch allein fühlt. Genau wie ich.
Also hast du nicht nur mich zu einem einsamen Menschen gemacht, sondern auch
noch deine Enkelin, der du nie begegnet bist. Ich trinke auch. Zur Betäubung,
genau wie du. Ein paar Schlucke, und schon wird das Kalte warm. Mit dem
einzigen Unterschied, dass ich in coolen Clubs getrunken habe und du in
hässlichen Kneipen. Nun liegst du hier und willst, dass man dir verzeiht. Aber
ich kann dir nicht verzeihen. Das ist einfach so . . .«
»Karin? Sollen wir jetzt reingehen?«
»Was?«
»Sollen wir reingehen?«
Karin seufzt. Sie denkt nach. Liest den Brief noch einmal. Streicht
die Passage, dass sie allein ist. Denn das ist sie nicht mehr. Sie hat einen
Freund. Sie hat Jens. Dann nickt sie, faltet das Stück Papier zusammen und
versucht, sich aus dem fusseligen Sofa zu erheben. Es geht immer noch nicht,
sie sitzt fest.
»Kannst du mich tragen?«
Jens antwortet nicht, sondern geht zu ihr, legt seine starken Arme
um sie und hebt sie hoch. Karin lehnt den Kopf an seine Brust und kapituliert.
Okay, jetzt gehen wir.
Pelle stellt sich neben den großen Haufen, der direkt an
der Ecke des Schlosses, genau vor seinem Atelier thront. Um ihn herum ist alles
knochentrocken. Der Reisighaufen, das Gras, die Apfelbäume, die Himbeer- und
Brombeerbüsche, das Labyrinth, die Trauben in der Orangerie, das Schloss. Alles
ist trocken. Ein ganzer Monat ohne den kleinsten Regentropfen, ausschließlich
brennende Sonne, die jedes Atom Wasser aus der Erde verdunstet hat.
Pelle tritt ein wenig zurück, stellt sich an den Pool und sieht zum
Schloss hinauf. Wie viele Träume hatte er nicht von Majas und seinem Leben hier
gehabt. Sie würden eines dieser glücklichen Künstlerpaare werden, jeder würde
auf seine Weise kreativ sein. Sie würden mit ihren Freunden, der Natur und den
Tieren auf der Insel leben und
Weitere Kostenlose Bücher