Fuer Wunder ist es nie zu spaet
Rauch gar nicht gesehen. Dann
wären sie jetzt schon auf dem Weg zur Insel, vielleicht wären sie ja schon da
und würden auf den Klippen liegen, und . . . Aber jetzt fahren sie zurück.
Verdammt, jetzt fahren sie zurück. Die Tränen schießen ihm in die Augen, er
kann sie nicht zurückhalten.
Maja sieht sie nicht. Sie ist mit ihrem Blick ganz woanders. Alex
dreht den Kopf herum, sieht den Rauch aus dem Schloss steigen und weint leise
in den Wind hinein.
Pelle schleudert die Pantoffeln von den Füßen, ohne sie
ist er schneller. Hinter sich hört er das knisternde Geräusch des Feuers, das
sich ausbreitet. Die Flammen haben sofort auf die Birnenspaliere übergegriffen
und sind die Wände hinaufgeklettert. Jetzt muss er zusehen, dass er das Kanu
ins Wasser bekommt, denn in dieser Trockenheit wird sich das Feuer schnell
ausbreiten. Barfuß joggt er zum östlichen Ufer hinunter, wo immer zwei Kanus
bereitliegen, die jedoch nie benutzt werden. Das sind Majas und Pelles Kanus,
mit denen sie so viel paddeln wollten, aber es ist nie auch nur zu einer einzigen
Paddeltour gekommen.
Au! Da ist er wieder, dieser entsetzliche Druck auf der Brust. Pelle
verlangsamt sein Tempo und geht, anstatt zu joggen. Er spürt das trockene Gras
unter seinen Fußsohlen und muss ein wenig ausruhen. Schwer atmend lehnt er sich
an eine Birke. Hinter ihm raschelt es laut, ein Damhirsch flieht vor dem Feuer,
er setzt elegant über Gestrüpp und Büsche. Der ängstliche Ruf des Tieres erhält
Antwort von der anderen Seite der Insel, mit einem Mal schallen die heiseren,
vor Todesangst zitternden Rufe der Tiere über die Insel.
Der Rauch beißt in der Nase, die Rufe hallen in seinen Ohren. Wie
sollen all die schönen Damhirsche nur von der Insel herunterkommen? Was hat er
getan? Er tötet die Tiere, er wird sie alle töten. Er muss weg, muss genau wie
die Damhirsche fliehen.
Die Hand fest auf die Brust gepresst, versucht Pelle zu den Kanus zu
laufen. Vom Himmel segelt schwarzer Ruß. Der Schmerz breitet sich aus, und dann
dieses Schreien. Nein, er muss sich ein wenig hinsetzen, auf die grüne Bank am
Seerosenteich. Schwer lässt er sich fallen und drückt die Hände auf die Ohren,
um die Angst der Tiere nicht zu hören. Der Druck ist noch da, jetzt ist es, als
hätte jemand einen schweren Tisch auf seine Brust gelegt und würde ihn auf
seinen Körper herunterdrücken. Auf einmal durchfährt es ihn wie Elektrizität,
die zum Hals hinauf, über die Schultern und in die Arme hineinschießt. Es
sticht und brennt, und Pelle reißt sich das Hemd auf, dass die Knöpfe fliegen.
Dann wird alles schwarz.
52
K arin sitzt ganz still da und atmet
ruhig. Jens streichelt ihr die Hand. Vom Bett her ertönt rasselnder Atem, den
Brief hat sie in der geballten Faust zerknüllt.
Sie muss an all die Anrufe vom Krankenhaus denken, als die
Krankenschwestern verzweifelt erzählten, wie ihr Vater dagelegen und ihren
Namen geschrien habe und dass er sie vor seinem Tod unbedingt noch einmal sehen
wolle. Er muss ein so unendlich schlechtes Gewissen gehabt haben.
Vielleicht hat er im Angesicht des Todes plötzlich in aller Klarheit
gesehen, was er getan hat, dass er sein kleines Kind im Stich gelassen hatte.
Vielleicht hat er sein Leben wie in einem Film ablaufen sehen, mitsamt den
ganzen Szenen, vor denen er bisher die Augen hatte verschließen können. Wie es
wohl ist, auf dem Sterbebett zu erkennen, dass man das Schlimmste überhaupt
getan hat? Dass man sein eigenes Kind vergessen hat? Dabei hätte fast auch sie
selbst es sein können, die hier liegt und nach Simone schreit. Aber Simone wäre
gekommen, sie hätte ihr verziehen.
Karin betrachtet ihren Vater. Raue, schuppige Haut und
alleingelassen. Kjell. Eigentlich hatte auch er nie eine Chance. Schon sein
Vater war Alkoholiker gewesen, hatte in der Eisengießerei gearbeitet, aber an
den Wochenenden gesoffen. Einmal war er drei Tage lang verschwunden gewesen,
natürlich machte sich seine Mutter Sorgen, doch am Ende war er sternhagelvoll
nach Hause gekommen. Alle hatten ihn gefragt, wo er denn gewesen sei, und er
hatte geantwortet: »Im Himmel.« Drei Tage lang saufen zu können, das war für
ihn das Größte überhaupt.
Kjell fing an seinem dreizehnten Geburtstag an zu saufen, zusammen
mit seinem Vater. Der hatte ihn sogar eingeladen. Für einen schüchternen Jungen
ohne Selbstvertrauen funktionierte der Alkohol perfekt, das war so, als würde
man Sicherheit und Mut in die Adern pumpen. Erst trank
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