Fuer Wunder ist es nie zu spaet
einer
Pinnwand mit Dankeschönpostkarten. Dann sind sie da, Zimmer Nummer sieben.
Karin schließt die Augen und schluckt hörbar, als Jens die Tür mit
dem Fuß aufstößt. Zwanzig Jahre ist es her, seit sie ihren Vater zum letzten
Mal gesehen hat. Zwanzig Jahre, das ist ein halbes Leben. Und das Seltsame ist,
dass Karin, obwohl sie ihren Vater hasst und für das, was er ihr angetan hat,
verabscheut, nicht sehen will, wie er im Krankenhauselend liegt und auf den Tod
wartet. Sie will ihn nicht in den verwaschenen Hemden des Landeskrankenhauses
daliegen sehen, in dem kahlen Zimmer, im Geruch von Handdesinfektionsmittel und
dem Gestank der Einsamkeit. Nein, sie will die Augen nicht aufmachen, sie will
nicht hinschauen.
Hinter ihnen schließt sich die Tür mit einem zögerlichen Quietschen.
Stille. Es ist eine kompakte Stille, die nur von dem dumpfen Surren der
Ventilatoren und dem leichten Rasseln von jemandem durchbrochen wird, der mit
dem Atmen kämpft. Karin hält die Luft an, sie will nicht atmen, will den
Gestank des Todes nicht spüren. Verzweifelt versucht sie, alle ihre Öffnungen
zu verschließen, die Nase, die Augen, die Kehle. Aber jetzt geht es nicht
länger, sie braucht Luft, sie muss die üble tote Luft einatmen, also lässt sie
schließlich los, bereitet sich auf das Gefühl vor und öffnet Nase und Mund und
atmet.
Es riecht nicht nach Handdesinfektionsmittel und Tod, ganz und gar
nicht. Es stinkt nicht . . . es duftet. Es duftet nach Blumen, nach Zitrone,
Vanille, Veilchen, Pfirsich und Mimose. Karin hat die Augen immer noch
geschlossen, aber nun holt sie tief Luft, als würde sie ihrer Wahrnehmung nicht
recht trauen. Doch, es ist wahr. Das ganze Zimmer duftet nach . . . Blumen. Wie
kann das denn sein? Und woher kommt das?
Immer noch hält Karin sich krampfhaft an Jens fest. Und nun wagt
sie, die Augen zu öffnen. Ganz vorsichtig, um nicht geblendet zu werden und
nicht in Ohnmacht zu fallen.
Durch die halb geöffneten Lider kann sie ein Bett erahnen, das in
Schleierkraut und Duftveilchen gehüllt ist. Nun macht Karin die Augen ganz auf
und kann es kaum begreifen. Überall, einfach überall sind Blumen. Sie befinden
sich in wunderschönen, großen Töpfen und ranken sich an Lampen und
Fensterrahmen entlang. Himmelsleiter, Maiglöckchen, Bartnelken, Storchschnabel,
Lavendel, überall Blumen. Und alles sind mehrjährige Stauden, Perennen. Wie im
Märchen von Dornröschen. Kein Krankenhausbettzeug, stattdessen durchsichtige
weiße Spitze.
Und dort, zwischen Blumen, Düften und frisch gemangeltem Bettzeug
liegt er. Ihr Vater. Seine Haut ist rot und schuppig, das Haar grau, aber immer
noch voll und nach hinten gekämmt, die Augen sind geschlossen, der Mund mit der
trockenen Zunge steht ein wenig offen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, es
rasselt, wenn er atmet. Neben dem Bett steht ein Besuchersessel, der mit einem
Quilt in Rosenmuster und einem abgewetzten Lammfell bedeckt ist. Jens setzt Karin
vorsichtig auf dem Sessel ab.
»Nein, geh nicht!«
Karin greift nach ihm, und er nimmt gleich ihre Hand und setzt sich
auf die Bettkante.
Sie betrachtet ihren Vater, dann Jens und schließlich sich selbst.
Und erst jetzt bemerkt sie, dass sie beide noch die Schwimmwesten anhaben.
»Mein Gott, mein Gott, mein Gott, wenn er nur nicht da
drinnen im Feuer ist!«
Maja braust, so schnell es geht, zurück nach Hjortholmen. Neben ihr
sitzt ein völlig verstummter Alex. Das Boot kracht hart in die Wellen, die
sich, vom heftigen Wind aufgepeitscht, hoch auftürmen. Aus dem Nichts ziehen
sich dunkle Wolken zusammen und mischen sich mit dem schwarzen Rauch über dem
Schloss. Immer wieder schlägt das Boot dröhnend aufs Wasser. Rasch breitet sich
der dichte schwarze Rauch am Himmel aus. Funken stieben hoch, spektakuläre
Feuerzungen, immer mehr Rauch.
Maja steht im Boot und versucht die Wellen anzuschneiden und
gleichzeitig zu steuern.
Alex betrachtet sie. Er sieht, wie sich die Besorgnis in ihrem
Gesicht ausbreitet, und ihm wird klar, dass sie sich jetzt ganz weit von dem
Abenteuer entfernen, das sie geplant hatten. Plötzlich möchte er weinen, er
kneift die Lippen aufeinander und schafft es, die Tränen zurückzudrängen. Mit
dem Ärmel seiner Kapuzenjacke wischt er sich die Nase ab und sieht wieder zu
Maja.
Sie waren schon so nah dran, und wenn er nicht angefangen hätte, mit
ihr zu reden und ihr die Ohren vollzuheulen, wie sehr er sie liebe, dann wären
sie einfach weitergefahren, und Maja hätte den
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