Fuer Wunder ist es nie zu spaet
in Auge mit dem Sonnenaufgang. Die Sonne geht
auf, sie selbst geht unter. Das Licht blendet sie fast, und obwohl es nur
einige wenige, dünne Strahlen sind, die sie treffen, wärmen sie doch ihre
Wangen.
Simone. So viel Angst hat sie gehabt, dass sie das Kind nicht
richtig würde lieben können, dass sie ihr keine gute Mutter würde sein können.
Immer hat sie über all die spießigen Elternzeitschriften gespottet und hat sie
heimlich doch gelesen, so wie ein Teenager Pornos liest. Sie hat insgeheim das
Muttersein studiert: wie man seine Wickeltasche packen muss, wie Bäuerchen,
Ins-Bett-Bringen, In-den-Schlaf-Wiegen, Singen, Rumtollen und Spielen
auszusehen haben. Das Essen in winzig kleine Portionen aufteilen und im Eiswürfelbehälter
einfrieren und, falls das Kind Hunger hat, schnell auftauen. Das glückliche
Gefühl, das eigene Kind an der Brust zu haben. Glückliche Promimütter, die von
ihren Kindern erzählen und wie seit der Geburt ihrer Kinder das Leben einen
Sinn bekommen hat.
Karins Leben hat seinen Sinn verloren. Simone hat ihm keinen Sinn
geben können, ein bisschen vielleicht, aber kein Ganzes. Im Grunde hat Simone
ihr nur Angst gemacht, sie würde zu viel und zu lange arbeiten. Und Karin liebt
ihre Arbeit, mehr als das Mutterdasein. Als sie beim Kulturradio arbeitete,
konnte sie ganze Nächte damit verbringen, Reportagen zusammenzuschneiden,
Musikeinblendungen zu hinterlegen, Stimmungen zu kreieren, Worte einzuspielen.
Sie war gut, verdammt gut, in ihrem Beruf und verdammt schlecht als Mutter.
Jetzt ist die Lust an der Arbeit auch verschwunden, nichts ist mehr
übrig davon. Sie will nicht mehr die Bücher von anderen Leuten lesen, will die
Ergüsse, das Leben, die Gefühle und Beziehungen anderer nicht mehr rezensieren.
Sie hat keine Lust, Pelle über seine Kunst zu befragen, der ist ihr völlig
egal. Es ist doch alles nur eine Fassade. Seine Frau fickt kleine Jungs, und
sie spürt den Geruch der Angst, die er vor seiner aktuellen künstlerischen
Arbeit hat. Das hat alles nichts mit der Realität zu tun, und sie will nicht
länger lügen. Sie will keinen einzigen Artikel mehr über die freie, herrliche
Kunst schreiben. Sie will nie wieder irgendwelche Lügengeschichten über alle
ihre Freunde und die aufregenden Reisen erzählen. Keine Lügen mehr. Lügen waren
das Einzige, was sie hatte, daran hat sie sich festgehalten. Und jetzt lässt
sie los.
Karin hebt die Füße vom Sandboden und lässt sich ins Wasser sinken,
das sie warm umfängt.
37
P elle stolpert zurück, als hätte ihm
jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt, dann erbricht er, dass es nur
so auf den Kies spritzt. Oh Gott, das Herz. Es ist stehen geblieben. Jedenfalls
fühlt es sich so an. Ihr Lachen verstummt, jetzt ist nur noch schweres Atmen
und das Rutschen auf Kies zu hören.
Pelle geht einfach zum Schloss hinauf. Er weint nicht, er geht nur.
Füße auf Kies, Gras und Marmor. Er sieht die offene Tür, die schönen lindgrünen
Flügeltüren, die sich zur Eingangshalle hin öffnen. Die lang gestreckte Halle
mit dem Fußboden aus Steinplatten, in die große Kreuze als Relief eingelassen
sind, die den Teufel fernhalten sollen. Aber wie kann man den Teufel
fernhalten, wenn er im eigenen Haus wohnt?
Pelle sieht Josefin hin und her laufen, von der Küche durch die
Eingangshalle und in die Kammer. Küche, Halle, Kammer. Sie trägt Tüten, Teller,
Kandelaber und noch mehr Tüten.
Sie haben dagelegen, Maja und er, dieser . . . verdammte Junge, in
demselben Labyrinth, in dem Pelle und Maja an jenem Oktobertag vor einigen
Jahren herumgingen und beschlossen, die Insel zu kaufen. Sie saßen auf einer
Bank in den Irrgängen, hielten einander an den Händen und entschieden, dass sie
hierherziehen würden. Eifrig haben sie die Ateliers und das Schlafzimmer
geplant. Oder war es gar nicht so? War vielleicht nur er eifrig gewesen? Hat
Maja einfach mitgemacht? Eigentlich wollte sie niemals hierherziehen, sie hatte
die Einsamkeit geahnt. Aber Pelle hatte geglaubt, sie hätten einander, da ist
man doch nie einsam.
»Sag mal, Pelle, was ist los mit dir?«
Josefin schiebt eine Tür mit dem Fuß auf und sieht fragend in Pelles
bleiches Gesicht, wie er in seiner kaputten Hose dasitzt, die Hand aufs Herz
gepresst. Pelle antwortet nicht, sondern starrt Josefin nur an.
»Soll ich dir nach oben helfen?«
Pelle antwortet immer noch nicht, und so lässt Josefin die Tüten
einfach auf den Boden fallen, packt Pelles Arm und stützt ihn
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