Fürchte deinen Nächsten!
und das wird nicht einfach sein, weil er uns in allen Belangen überlegen ist. Er kann etwas, das wir nicht können, und von dem wir höchstens träumen.«
»Möchten Sie das denn?«
Marcella aß erst den Mund leer, bevor sie eine Antwort gab. »Manchmal schon. Doch wenn ich mir vorstelle, so wie dieser Judas Delany zu sein, dann eher nicht.«
»Das meine ich auch.«
»Sie haben ihn noch nicht gesehen?«
»Nein, und ich sage nicht leider.«
Sie nickte ihm heftig zu. »Genau das war auch ein Grund für mich, hierhin zu gehen. Er weiß, wo ich wohne, deshalb ist es leichtes für ihn, an mich heranzukommen, wenn ich mich dort allein aufhalte.« Sie schaute sich um. »Hier komme ich mir geschützter und auch beschützter vor. Das verstehen Sie.«
»Bestimmt.«
»Überzeugend klang das nicht.«
Suko wiegte den Kopf. »Das gebe ich zu. Aber ich kenne Typen dieser Art. Man kann sich vor ihnen nicht verstecken. Sie sind immer verdammt schnell. Sie haben einen Riecher für ihre Opfer, und deshalb sollten wir auch nicht so sorglos sein.«
»Das bin ich nicht.« Marcella aß wieder und wollte danach etwas sagen, als ihr Sukos Verhalten auffiel.
Der Inspektor war nicht nur still geworden, er hatte auch seine Lockerheit verloren. Einen winzigen Schritt war er zurückgetreten, stand zwar noch vor dem viereckigen Tisch, doch er hatte seine Hände um die Kante gekrallt.
»Was ist los, Suko?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Doch, das wissen Sie!«
»Ich habe das Gefühl gehabt, nicht mehr allein zu sein.«
»Das sind wir sowieso nicht.« Sie deutete auf das junge Paar, das sich selbstvergessen anschaute und dabei hin und wieder einen Schluck Glühwein trank.
»Judas!«
»Nein!« Es war ein erschreckter Ausruf.
»Denken Sie daran, wozu er fähig ist. Daß er die Zelle verlassen konnte. In seinem zweiten Zustand werden wir ihn schwerlich entdecken können. Vielleicht habe ich seine Nähe gespürt.«
»Das gibt es. Sollen wir gehen?«
»Wenn, dann müssen wir in der Nähe bleiben, weil John Sinclair uns hier trifft.«
»Ja, stimmt und…«
Der junge Mann am Tisch hob plötzlich seinen Kopf. Mit der gleichen Bewegung ging er auch einen kleinen Schritt nach hinten und drückte seinen Rücken durch, so daß er für einen Moment steif wie ein Ladestock auf der Stelle stand.
Das war nicht normal. Suko und Marcella wußten es. Sie schauten ihn von zwei Seiten zugleich an und sahen deshalb auch, was mit ihm passierte.
Er riß den Mund weit auf, wie jemand der schreien will. Doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Dafür floß etwas anderes hervor, und das passierte, als der Kopf wieder nach unten sackte.
Aus dem Mund löste sich ein Blutschwall. Er klatschte auf den Tisch, in den Glühwein hinein, und zugleich brach der junge Mann neben Suko zusammen.
Der Inspektor reagierte automatisch. Er faßte zu, um ihn zu stützen. Die rechte Hand hatte er gegen den Rücken gelegt, und er spürte die Nässe an seinen Fingern.
Dort befand sich die Wunde, die der Killer durch seine Waffe hinterlassen hatte.
Noch schrie niemand, noch war der Schock einfach zu groß, aber die Stimme flüsterte dicht an Sukos rechtem Ohr. »Ich hole euch alle. Fürchte deinen Nächsten!«
Das war er. Das war Judas Delany. Suko wollte sich drehen, als der Treffer an seinem Hinterkopf explodierte. Ein Gebirge schien auf Sukos Kopf gefallen zu sein.
Die Masse machte ihn platt. Seine Knie gaben nach. Er hörte noch das Lachen der widerlichen Stimme, dann schwamm die Finsternis auf ihn zu wie breite Schattenspitzen.
Sie riß an ihm, sie zerrte ihn weg, und sie riß ihn hinein in den Tunnel der Bewußtlosigkeit.
Neben dem Tisch brach Suko zusammen…
***
Der Schwall klatschte auf die Fläche. Einige Spritzer wurden in die Höhe geschleudert und erwischten Marcellas gelben Mantel. Sie wußte nicht mehr, was sie noch denken sollte. Innerhalb eines kurzen Augen* blicks war das unsichtbare Grauen über sie gekommen. Judas hatte mit aller Brutalität zugeschlagen und war auch vor einem Unschuldigen nicht zurückgeschreckt.
In diesem Augenblick kam sich die Psychologin vor wir in einem gläsernen Gefängnis, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Sie sah alles so genau, wie durch das Teleobjektiv einer Kamera, aber sie war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen.
Statt dessen bewegte sich Suko. Er fing den nach hinten kippenden jungen Mann ab, dessen Freundin ebenfalls mit offenem Mund dastand und kein Wort hervorbrachte. Sie hatte noch nicht
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