Fürchte deinen Nächsten!
Sie war dabei, auch das letzte Kleidungsstück überzustreifen. Die grüne Jacke des Kostüms. Sie stand unter einem wahnsinnigen Druck. In ihrem Gesicht zuckte es. Die Augen sahen verquollen aus, und Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Das Blut an ihrem Hals und auch das auf der Brust war in das helle Unterteil gesickert. Die Hände hielt sie geballt, als sie steif auf uns zuging. »Für mich war er kein Mensch mehr, das habe ich gelernt. Ich habe immer versucht, Verständnis für Menschen aufzubringen oder zu haben, doch nun muß ich einsehen, daß man es nicht immer kann. Es gibt Grenzen, und die habe ich erreicht.« Sie schaute uns an. »Ich hoffe, daß Sie beide das verstehen.«
»Sicher«, sagte Suko.
Marcella starrte den Toten an. »Judas Delany war kein Mensch, und er war kein Tier. Er war etwas dazwischen, über das ich nicht näher nachdenken möchte. Ihm verdanke ich das Gefühl der Todesangst. Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Außerdem will ich nicht genau wissen, wer er eigentlich war. Man soll ihn verbrennen und seine Asche tief in der Erde verscharren.« Sie räusperte sich, um weitersprechen zu können. »Und wahrscheinlich werde ich aus dieser Wohnung ausziehen. Ich denke nicht, daß ich mit der Erinnerung an den Schrecken hier noch länger wohnen kann.«
»Es ist Ihre Entscheidung, Marcella«, sagte ich.
»Ja, stimmt.« Dann ergriff sie meine und Sukos Hand. »Habe ich mich schon bei euch bedankt?«
So etwas machte uns immer verlegen. »Das ist nicht nötig«, sagte Suko. »Wir haben einfach nur unseren Job oder unsere Pflicht getan.«
Marcella Ash schüttelte den Kopf. »Nein, das akzeptiere ich nicht so. In diesem Fall war es etwas mehr als nur Pflicht und Job…«
***
So schrecklich und grauenhaft der Fall auch gewesen war, einen kleinen Lichtblick gab es doch. Der junge Man vom Weihnachtsmarkt hatte überlebt, und er bekam später, als es ihm wieder etwas besser ging, von Marcella Ash einen riesigen Blumenstrauß und eine große Flasche edlen Cognac geschenkt…
ENDE
Weitere Kostenlose Bücher