Fürchte dich nicht!
besonderen Anlass, nach Norderney zu kommen, wollte sie nichts wissen. Angeblich alles Routine und Normalität.
Wer’s glaubt, wird selig, dachte Geis. Andererseits – vielleicht irrte er sich ja auch. Die Frau wirkte ein bisschen abgedreht, wie traumatisiert. Möglicherweise war es der Eindruck, etwas vorgespielt zu bekommen, der seine Bulleninstinkte geweckt hatte. Und in Wirklichkeit gab es gar kein Geheimnis um Zecken und Hannah Berends, lediglich ein persönliches Problem der Viola de Monti.
Das Telefon klingelte. Der Hauptkommissar erhob sich mit einem schwachen Stöhnen und nahm den Hörer ab. Britta Hartweg war dran. Sein Dienst begann erst in zwei Stunden, es musste sich um etwas Wichtiges handeln.
»Was ist los?«
»Lars Rasmussen turnt auf dem Leuchtturm herum.«
Geis suchte nach einem Gesicht, das zu dem Namen passte. Rasmussen? In der Fußgängerzone gab es einen Kleiderladen Rasmussen.
»Lars ist der Sohn von Wiebke Rasmussen«, erklärte Britta. »Der Junge ist dreizehn oder vierzehn.«
Jetzt tauchte ein Bild vor seinen Augen auf. Einer dieser runden Köpfe mit semmelblonden Haaren, die überall auf Norderney herumliefen. Lars war einer von denen, die mal einen coolen Spruch wagten. Aber eigentlich ganz harmlos.
»Und?« Geis versuchte, den Druck an seinen Schläfen zu ignorieren.
»Er balanciert auf dem Käfig der Aussichtsplattform. Ein paar Spaziergänger haben uns angerufen. Saskia Fischer ist schon vor Ort.«
»Wie konnte er auf den Käfig gelangen? Der ist doch rundum geschlossen, als Sicherung gegen Selbstmordversuche.«
»Es gibt eine Luke. Anscheinend ist es ihm gelungen, sie zu öffnen.«
»Sieht es aus, als ob er springen würde?«
»Frag mich was Leichteres, Martin.«
»Ist seine Mutter verständigt?«
»Wir haben sie noch nicht erreicht.«
»Feuerwehr?«
»Unterwegs.«
»Ich komme«, sagte Geis.
Der 1874 fertiggestellte Leuchtturm war eines der Wahrzeichen von Norderney. Er stand abseits der Strände und bewohnten Gebiete, fast in der Mitte der Insel und direkt neben dem Flughafen. Ein paar Jahre war er für Touristen gesperrt gewesen, doch seit einiger Zeit konnte man wieder zur über fünfzig Meter hohen Spitze hinaufsteigen.
Saskia Fischer hielt eine kleine Gruppe von Senioren in roten und gelben Plastikumhängen in Schach, als der Polizeiwagen mit Martin Geis und Britta Hartweg unterhalb des Turms stoppte. Geis nickte Fischer zu und blickte nach oben. Lars saß auf der äußeren Kante des Gitterkäfigs, seine Beine baumelten in der Luft. Die Ankunft des Polizeiwagens war ihm nicht entgangen, er stieß einen unartikulierten Schrei aus und drückte sich mit den Händen hoch. Dann hakte er seine Füße in den Geländerstäben ein und ließ den Oberkörper nach vorn fallen. Von unten sah es aus, als würde er wie eine Galionsfigur vor dem Bug eines Schiffes schweben. Nur dass es am Fuß des Leuchtturms kein Wasser gab, das den Aufprall des Sturzes milderte.
Die betagten Schaulustigen hielten nach geräuschvollem Einatmen die Luft an.
»Halten Sie bitte Abstand!«, sagte Geis scharf.
Schritt für Schritt wichen die Rentner zurück. Geis trat neben Fischer, die dem Turm den Rücken zuwandte, um die Zuschauer im Auge zu behalten. Wieder wurde ihm bewusst, wie schön die junge Polizistin war.
»Wie lange ist er schon da oben?«
»Der erste Anruf kam vor einer Stunde. Offenbar hat er sich irgendwie den Schlüssel besorgt, normalerweise ist der Leuchtturm nur am Nachmittag geöffnet.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein.« Fischer errötete. »Dafür bin ich nicht ausgebildet. Ich dachte, ich warte, bis Sie …«
»Kein Problem.« Geis klopfte ihr auf die Schulter. »Das haben Sie richtig gemacht.«
Britta Hartweg stand breitbeinig vor dem Polizeiwagen. Mit der verspiegelten Brille, die sie zum Schutz gegen die Sonne aufgesetzt hatte, sah sie aus wie eine dreidimensionale Comicfigur. Auf der Straße näherte sich ein Feuerwehrwagen, ohne Blaulicht und Sirene. Geis war froh, dass der Einsatzleiter auf jegliches Tamtam verzichtete, es hätte Lars nur provoziert.
»Einer von uns muss nach oben. Ich dränge mich nicht vor.«
Britta drehte den Kopf. »Ich würd’s ja tun.«
»Aber?«
»Ich habe mir Lars letzte Woche zur Brust genommen, weil er eine Flasche zerschlagen hat. Kann sein, dass er mich zurzeit nicht leiden kann.«
»Okay«, sagte Geis. »Sobald die Mutter auftaucht, schick sie mir nach!«
Ohne noch einmal zur Turmspitze zu blicken, eilte er
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