Fürchte dich nicht!
wartete, ob sich bei ihr ein Gefühl des Glücks oder der wohligen Zufriedenheit einstellte. Aber da war nichts. Sie sah nur das Meer, Wellen, Schiffe und den Himmel – Komponenten, die unter farblichen Gesichtspunkten gut zusammenpassten.
Wahrscheinlich war es das Beste, sie sagte die Verabredung ab. Sie fühlte sich nicht in der Lage, mit einem Mann essen zu gehen. Ein paar Stunden Small Talk oder, schlimmer noch, heterosexuelles Gebalze – das würde sie überfordern.
Mit nackten Füßen stapfte Viola zum Zimmertelefon und nahm den Hörer ab. »Können Sie mich mit der Polizeistation verbinden?«
»Gibt es ein Problem?« Die Frau an der Rezeption klang besorgt.
»Nein, ich möchte nur eine Auskunft.«
Ein Freizeichen. Dann eine Frauenstimme: »Polizeiwache Norderney.«
Viola legte auf. Nein, das Experiment war noch nicht zu Ende. Es jetzt abzubrechen, wäre feige. Sie würde den Tag bis zum Ende durchstehen. Als eine Frau, die alles machen konnte, was sie wollte. Sogar mit einem fremden Mann essen gehen.
Aber zuerst musste sie unter die Dusche. Mindestens fünfzehn Minuten lang. Kochend heiß. Um den Angstschweiß abzuwaschen.
Das Restaurant sah edel aus. Überall Holz. Am Boden, an den Wänden, an der Decke, Stühle und Tische sowieso. Und der Blick aufs Meer stand dem aus ihrem Hotelzimmer nicht nach. Auch das Essen war vermutlich sehr gut. Viola kannte sich da nicht mehr so aus. Sie aß, um satt zu werden, nicht, um etwas zu schmecken. Außerdem beanspruchte im Moment das Gespräch ihre ganze Konzentration. Es galt, an den richtigen Stellen zu nicken, zu lächeln, zuzuhören und Fragen zu stellen. Und zwischendurch das Essen nicht völlig zu vergessen.
Als der Polizist sie vom Hotel abgeholt hatte, war sie ein bisschen enttäuscht gewesen. Statt der Uniform trug er Jeans und ein schlabberiges Freizeitsakko. Vor ihr saß ein ganz normaler Mann von Mitte vierzig mit leichtem Übergewicht und ordentlich nach hinten gekämmten, halblangen Haaren.
Die Familiengeschichten waren inzwischen abgehakt. Viola hatte von ihrem sizilianischen Vater Antonio erzählt und wie sich ihre Mutter, eine waschechte Berlinerin, während eines Adria-Urlaubs Hals über Kopf in den Eismann an der Straßenecke, eben Antonio, verliebt hatte. Zwei Monate später war klar gewesen, dass die Liaison Folgen haben würde. Antonio hatte sein geliebtes Italien aufgegeben und war nach Berlin gezogen, um dort einen Eissalon zu eröffnen. Weshalb sie, also Viola, von Geburt an Berlinerin war und Italien nur von den Besuchen bei der weitläufigen Verwandtschaft ihres Vaters kannte.
Danach war Martin Geis an der Reihe gewesen. Dass er geschieden war, hatte Viola vermutet. Auch, dass er nicht ganz freiwillig auf Norderney gelandet war. Allerdings hätte sie ihm mehr als eine Tochter zugetraut und bei den Geschichten vom Scheidungskrieg und seinen Schwierigkeiten, ein gutes Vater-Tochter-Verhältnis aufrechtzuerhalten, verlor sie vorübergehend den Faden.
Sie fand ihn wieder, als sie das Private verließen und auf ein Themenfeld zu sprechen kamen, das Viola erheblich mehr lag.
»Ich habe mich nicht immer mit Zecken beschäftigt«, antwortete sie auf Geis’ Frage. »Eine Zeit lang war ich in der Forschung tätig. Ich habe in Deutschland und den USA Mikrobiologie und Epidemiologie studiert und meine Doktorarbeit über Ebola geschrieben.«
»Ebola? Ist das nicht …«
»Das gefährlichste Virus, das es gibt«, erklärte Viola. »An der Kongo-Variante des Virus sterben neun von zehn Infizierten innerhalb von fünf bis fünfzehn Tagen.«
»Und wie …«
»Wie es anfängt? Mit starken Kopfschmerzen, Fieber, Übelkeit. Dann kommen Rückenschmerzen hinzu, die Schmerzen breiten sich im ganzen Körper aus, werden unerträglich. Nach etwa fünf Tagen explodiert das Virus im Körper, es hat sich milliardenfach vermehrt und überschwemmt das Blut und die inneren Organe. In den Adern bilden sich kristalline Blutgerinnsel, Leber und Nieren stellen die Arbeit ein und verflüssigen sich. Die Schleimhäute im Rachen und im Darm lösen sich ab, durch die Blutgerinnsel kommt es im Gehirn zu einer Reihe von kleinen Schlaganfällen. Das Gesicht verwandelt sich in eine starre Maske mit roten Augen, die höheren Bewusstseinsfunktionen werden nach und nach abgeschaltet. Die Erkrankten wissen nicht mehr, wer und wo sie sind, manche springen aus den Krankenhausbetten und rennen nackt durch die Straßen. Dann spucken sie Blut. Körniges, fast schwarzes
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