Fürchte dich nicht!
den rot gepflasterten Fußweg hinauf, der die Straße mit dem Eingang des Leuchtturms verband, vorbei am verwaisten Kassenhäuschen. Dann stand er im Inneren. Eine enge Wendeltreppe aus grauem Beton führte nach oben. Es waren rund zweihundertfünfzig Stufen, das wusste er von einer Inselführung, die er zu Beginn seiner Amtszeit mitgemacht hatte. Nach einer Minute kehrten die Kopfschmerzen zurück und pochten wild gegen die Schläfen, nach zwei Minuten fing er an zu keuchen. Davon, dass er in grauer Vorzeit mal regelmäßig gejoggt und Kampfsport getrieben hatte, war seiner Kondition nichts mehr anzumerken. Er fühlte sich wie ein fetter alter Sack. Ein alter Sack, der keine Ahnung hatte, wie man mit dreizehnjährigen Selbstmordkandidaten redete.
Vor der Öffnung, die auf die kreisrunde Plattform hinausführte, blieb er stehen. »Lars! Ich bin Martin Geis, der Chef der Polizei. Ich komme jetzt raus.«
Gejohle war die Antwort.
Hier oben wehte ein starker Wind. Geis hob die Arme, um seine friedlichen Absichten zu unterstreichen. »Ich will nur mit dir reden.«
»Cool.« Lars hing immer noch auf der Außenseite des Geländers, mit der rechten Hand hielt er sich am Gitter fest, während der linke Arm locker herunterbaumelte. Sein Gesicht war gerötet, vom Wind und der Anstrengung.
»Ich fänd’s besser, wenn du auf die Innenseite kommen würdest, während ich hier bin.«
»Warum?«
»Es macht mich nervös, dich da rumzappeln zu sehen. Ich verspreche dir, ich bleibe an der Tür stehen.«
»Lässt sich machen.« Lars schwang hoch und setzte sich wieder auf den Käfig.
Ein erster kleiner Erfolg. Geis atmete durch. »Wenn du Probleme hast, finden wir bestimmt eine Lösung.«
»Probleme? Was für Probleme?«
»Ärger in der Schule. Mit deiner Mutter. Liebeskummer. Irgendeinen Grund wird es ja geben, warum du hier oben bist.«
Ganz langsam kippte der Junge zur Seite, der Außenseite.
»Nein!« Entgegen seinem Versprechen machte Geis einen Schritt nach vorn. Sein Herz überschlug sich.
»Heftig!« Lars lachte auf. Im letzten Moment hatte er sich abgefangen.
»Tu das nicht! Bitte!«
»Was?«
»Da runterspringen.«
»Ist doch nicht so schlimm.«
»Lars!« Eine helle Frauenstimme drang von unten herauf.
»Mama?« Er lugte nach unten. »Ihr habt Mama gerufen?«
»Ja. Und deine Mutter wäre wahnsinnig traurig, wenn du dich umbringen würdest.«
»Will ich gar nicht.«
»Das ist gut«, sagte Geis. »Das ist sehr gut.«
»Ich will nur wissen, wie das ist. Zu fliegen.«
»Du kannst nicht fliegen. Du bist tot, sobald du loslässt.«
»Mir kann nichts passieren, Alter.« Das runde Gesicht strahlte. »Ich habe gespeichert.«
»Du hast was?«
»Mein Leben gespeichert. Ich stehe wieder auf und mache weiter. Gott-Modus, verstehen Sie? Ich habe den Gott-Modus eingegeben.«
Eine Ahnung beschlich den Hauptkommissar. »Das hier ist kein Computerspiel, Lars.«
»Hundertpro.«
»Ist es nicht.« Der Junge war sich der Gefahr, in der er schwebte, gar nicht bewusst. Das machte es noch schwerer, ihn zu überzeugen. Geis spürte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte. »Lars, bitte! Lass uns nach unten gehen und die Sache klären. Falls du recht hast, spendier ich dir …«
»Später.«
Geis hörte den kollektiven Aufschrei. Und dann das Geräusch, als der Körper auf dem Boden aufschlug. Er taumelte zurück und rutschte an der Außenwand des Turms abwärts, bis er den kalten Boden berührte. Das Zittern begann in den Armen und Beinen und breitete sich im ganzen Körper aus, es schüttelte ihn, als wäre er an ein Stromkabel angeschlossen. Die Zähne klapperten und aus seinem Mund kam ein Ton, der ihn an nichts erinnerte, was er schon einmal gehört hatte.
Allmählich verebbten die Zuckungen. Er hörte, dass Britta Hartweg seinen Namen rief, und stand auf. Es fiel ihm unendlich schwer, nach unten zu schauen. Lars’ Leiche war mit einer Plastikplane bedeckt. Mehrere Menschen standen daneben: Wiebke Rasmussen, Britta Hartweg, Dr. Habibi – und Viola de Monti.
12
Berlin, Bundesinnenministerium
Heiner Stegebach wusste nicht, was er hier sollte. Hinter der Doppelflügeltür, auf die er von seinem Sessel aus blickte, fand eine Konferenz auf Abteilungsleiterebene statt. Sicherheitsexperten, so viel hatte er mitbekommen. Auch das Stichwort Norderney war gefallen. Also ging es wohl um den bevorstehenden Europäischen Gipfel. Aber das war keine Angelegenheit, die das Gesundheitsressort betraf. Wieso hatte man ihn, den
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