Fürchte dich nicht!
brauche. Doch wie sollte Geis, trotz nebulöser beruflicher und finanzieller Perspektiven, eine neue Wohnung finden? Und was wollte er mit seinem Leben überhaupt noch anfangen? In den Polizeidienst zurückzukehren, schien nach dem Ausraster auf Norderney ausgeschlossen. Schon nach seiner ersten Prügelei mit Goronek hatte man ihm unmissverständlich klargemacht, dass ein weiterer Vorfall die Entlassung zur Folge haben würde. Und etwas anderes als Polizist hatte er nun mal nicht gelernt. Blieben die üblichen Alternativen für gescheiterte Ermittlerexistenzen: Privatdetektivbüro oder Sicherheitsdienst. Beides so attraktiv wie Pockennarben im Gesicht. Geis hatte nicht die geringste Lust, jugendliche Kaufhausdiebe zu jagen oder nachts an Türen zu rütteln. Dennoch würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben. Weil er es nicht aushielt, zu Hause zu sitzen und Gerichtsshows im Fernsehen zu gucken.
Deshalb war er Viola de Monti dankbar gewesen, als sie ihn von seinen Grübeleien erlöste. Sie musste ihn nicht überreden, nach Münster zu kommen. Sicher, er würde ihr helfen. Es ging um die Zeckengeschichte, umso besser, da kannte er sich wenigstens aus. Erst hinterher war ihm aufgefallen, dass de Monti aufgeregt und ein bisschen kurzatmig geklungen hatte.
Hinter einem kleinen Platz erhob sich das im münsterschen Backsteinstil erbaute Hotel, in dem die Wissenschaftlerin ein Zimmer für ihn gebucht hatte. Zum ersten Mal fragte er sich, was er von der Begegnung mit Viola de Monti erwartete. Ob sie wohl irgendwann den Panzer ablegen würde, mit dem sie die Welt auf Distanz hielt? Und welches Wesen würde dann in Erscheinung treten? Dass sie ihn interessant fand, hatte er schon auf Norderney gemerkt. Doch wie weit würde dieses Interesse gehen?
Viola de Monti stand auf, als er das Hotelfoyer betrat. »Sie sind spät dran.«
»Guten Morgen. Ich freue mich auch, Sie zu sehen.«
»Kommen Sie!« De Monti ging zur Tür. »Wir können unterwegs reden.«
»Entschuldigung.« Geis rührte sich nicht vom Fleck. »Ich habe mich Ihretwegen zwei Stunden ins Auto gesetzt, um von Hannover nach Münster zu fahren – und das ist alles, was Ihnen zur Begrüßung einfällt?«
Die Mikrobiologin schaute auf ihre Armbanduhr. »Wir haben einen Termin.«
»Ich würde gerne erst einmal einchecken, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ist schon in Ordnung«, mischte sich die Frau hinter dem Empfangstresen ein. »Wir bringen Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer.«
Das fing ja gut an.
De Monti rannte zum Taxistand. Geis geriet außer Atem, als er ihr folgte. »Sie haben mich angerufen – schon vergessen?«
»Nun seien Sie doch nicht so empfindlich!« Sie blieb kurz stehen. »Ich hatte eine schlechte Nacht, okay?«
»Was ist denn passiert?«
»Erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.«
»Wo fahren wir eigentlich hin?« Geis ließ sich auf die Rückbank des Mercedes fallen.
»Institut für Medizinische Epigenetik, Von-Esmarch-Straße«, sagte de Monti zum Taxifahrer.
»Und was machen wir da?«, fragte Geis.
»Wir reden mit Professor Walter. Der weiß noch nichts von Ihnen. Ich sage einfach, Sie sind ein Kollege.«
»Tolle Idee. Sobald ich den Mund aufmache, wird die Tarnung auffliegen.«
»Dann schweigen Sie am besten.«
Fantastisch. Zuerst die frostige Begrüßung und jetzt verlangte sie auch noch von ihm, dass er sich lächerlich machte. »Vielleicht sollte ich wenigstens eine Ahnung haben, was das ist, diese Epi…«
»Epigenetik«, sagte de Monti. »Nicht alle Gene, die wir Menschen besitzen, und die bestehen immerhin aus drei Milliarden Basenpaaren, kommen ständig und unverändert zum Einsatz. Ernährung, mütterliche Liebe oder auch Misshandlung hinterlassen in unserem Genom Spuren, die unter Umständen sogar vererbt werden. Genabschnitte, die für diese oder jene Eigenschaften zuständig sind, lassen sich aus- und auch wieder einschalten. Einfach gesagt: Unsere DNA ist wie ein gut gefülltes Regal im Supermarkt, das Leben, das wir führen oder das man uns aufzwingt, entscheidet, welche Gerichte daraus entstehen.«
»Ah ja«, sagte Geis.
»Womit ich nicht behaupten will, dass die Genforscher schon alles verstehen«, dozierte de Monti weiter. »Die Epi-genetik steckt noch in den Anfängen. Was hauptsächlich daran liegt, dass wir so kompliziert sind. Die vollständige Entschlüsselung des Erbgutes ist erst bei ganz wenigen Menschen gelungen. Klar ist nur, dass die individuellen Unterschiede weitaus größer sind, als wir lange Zeit
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