Fürchte dich nicht!
die auf der äußersten Sofakante hockte und mit den Beinen wippte, voller Energie, die aus ihren leuchtenden Augen sprühte.
Thedinga hatte sich ein wenig geschämt, weil er nur ein weißes Unterhemd trug und eine von Gartenarbeit fleckige Hose. Aber sie hatte gelacht und ihm in den Bauch geboxt. Als wären sie alte Freunde. Dabei hatten sie selten mehr als ein paar Worte gewechselt – auf der Dienststelle.
Sie war jetzt viel offener und direkter, nicht mehr so distanziert wie früher. Es musste an diesem Virus liegen. Er hatte davon gehört, die Zeitungen und Fernsehkanäle kannten ja kein anderes Thema mehr. Bei den Infizierten sei eine Wesensveränderung festzustellen, sie hätten keine Angst und neigten zu Übermut und Draufgängertum, manchmal auch zu aggressivem und für die Umwelt gefährlichem Verhalten.
Für ihn bestand im Moment keine Gefahr. Im Gegenteil. Die Blicke, die Saskia Fischer ihm zuwarf, ließen ihn spüren, dass er ein Mann war. Zwar doppelt so alt wie sie, aber noch ganz gut in Schuss. Er hielt sich in Form und war zu allem bereit. Nicht so wie Geis, der Blödmann, der Fischer von seinem Schreibtisch geschubst hatte. Thedinga hatte nicht vor, eine ähnliche Dummheit zu begehen.
»Was du darüber liest, sind amtlich verordnete Märchen«, sagte Fischer. »In Wirklichkeit geht es uns von Tag zu Tag besser. Das will bloß niemand wahrhaben. Weder die Ärzte und Psychologen, die uns untersuchen, noch die Regierung, die eine Warnung nach der anderen rausbläst. Die haben Angst, dass ihnen das Volk abhandenkommt, dass auf einmal alle Schlange stehen, um sich mit FSME anstecken zu lassen.«
»Glaubst du das?«
»Hundertprozentig.« Sie riss die Augen auf wie diese Zicke in der Vorabendserie, die Thedinga gestern gesehen hatte.
»Und wann … wann kommst du wieder zum Dienst?«
»Vorläufig nicht. Ich bin bis auf Weiteres krankgeschrieben. Wegen der Sache mit Martin trauen sie mir nicht. Sie denken, ich könnte durchdrehen, die Pistole ziehen, zur Amokläuferin werden, irgend so ein Scheiß. Offiziell heißt es, die Tests seien noch nicht abgeschlossen. Mir soll das recht sein.« Sie schüttelte ihre blonden Locken. »Ich habe was Besseres zu tun, als Touristen den Po zu wischen.«
»Und was?« Die Spucke lief in seinem Mund zusammen, so schnell konnte er gar nicht schlucken.
»Dafür ist es noch zu früh, Garrelt.«
Garrelt! Sie hatte tatsächlich Garrelt gesagt. Seit dem Tod seiner Frau rief ihn niemand mit seinem Vornamen. Für Kollegen, Freunde und Nachbarn war er bloß Thedinga.
Sie beugte sich vor und nahm seine schwielige Hand zwischen ihre zarten Finger. »Es gibt da einen Plan.«
»Plan?«, keuchte er.
»Willst du einer von uns werden?«
»Was … was meinst du?«
»Mach mir nichts vor, Garrelt! Du warst in der letzten Woche krank.«
»Eine Erkältung, nichts weiter. Ich musste mich ein paar Tage ausruhen.«
Natürlich hatte er daran gedacht. Jetzt, wo alle davon redeten. Aber sein Hausarzt hatte Entwarnung gegeben, bei der Blutuntersuchung seien keine Antikörper festgestellt worden. Bis auf eine Nacht mit hohem Fieber war es ihm nicht mal besonders dreckig gegangen. Landeten die meisten FSME-Infizierten nicht im Krankenhaus, viele sogar auf der Intensivstation? Dagegen war das, was er erlebt hatte, nichts gewesen. Und wie sollte er überhaupt infiziert worden sein – ohne Zecke?
Fischer lächelte. Thedinga konnte sich nicht erinnern, wann ihn zum letzten Mal eine Frau derart angelächelt hatte. Nicht mal Swantje Kunstmann, die sich eine Zeit lang Hoffnung gemacht hatte, ihn für sich zu gewinnen, bevor sie sich für den Tierarzt aus Oberhausen entschied.
»Du hast eines vergessen, Garrelt: Ich kenne dich. Vor deiner Erkältung warst du ein mürrischer alter Sack, der am liebsten mit seinem Kummer allein blieb. Hätte ich in jener Zeit vor deiner Haustür gestanden, was wäre das Resultat gewesen? Du hättest mich mit einer billigen Ausrede abgewimmelt.«
Fischer hatte recht. Etwas war mit ihm geschehen. Er entdeckte neuerdings, dass es im Leben auch Positives gab.
»Und schau dir den Garrelt von heute an! Ein Mann, der offen ist, der Lebensfreude ausstrahlt, der noch etwas erleben will.« Sie stand auf und ging um den Tisch und den Sessel herum, bis sie hinter ihm stand. »Der Mann, der das Virus erfunden hat, hält sich in Ostfriesland auf.«
»Wer …«
Ihre Hände legten sich auf seine Schultern, nah am Hals, wo die Haut nicht von den Trägern des Unterhemdes
Weitere Kostenlose Bücher