Fürchte dich nicht!
sich auf den Weg zu ihrem unerwünschten Verehrer. Am Vortag hatte sie seine Liebesgrüße erhalten, diesmal ohne Umweg über die Polizei. Offenbar strebte der Typ eine intimere Form der Kommunikation an. Aber da war er bei Viola an die Falsche geraten, sie empfand nicht die geringste Sympathie für den Mann, der sich abmühte, ihr zu gefallen. Dass sie ihm geantwortet hatte, war schon fast zu viel der Ehre.
Sie stand auf und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Als sie es zehn Minuten später mit nassen Haaren wieder verließ, klingelte das Telefon. War es möglich, dass Wesseling ihre in keinem Verzeichnis gelistete Telefonnummer herausgefunden hatte? Wollte er mit ihr über ihre E-Mail reden?
Auf dem Display erschien das Foto von Martin, das sie zusammen mit seiner Nummer abgespeichert hatte. Sie war erleichtert.
»Habe ich dich geweckt?«
»Nein, ich war unter der Dusche. Und vorher bin ich gelaufen.«
»Wie geht es dir?«
»Gut. Gut. Und dir?«
»Mir auch.«
Viola klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und hantierte in der Küche mit der Kaffeemaschine. Laufen, schreiben und duschen machte durstig.
»Du bist wahrscheinlich sauer, weil ich mich ein paar Tage …«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, unterbrach sie ihn. »Wir haben beide viel zu tun.«
Er schwieg. War sie wieder zu grob gewesen? »Tut mir leid«, schob sie freundlicher hinterher. »Ich habe immer noch Probleme mit dem Feintuning. Wie weit seid ihr denn mit der Suche nach Wesseling?« Männer redeten am liebsten über ihre beruflichen Erfolge. »Habt ihr schon eine Ahnung, wo er steckt?«
»Wesseling? Habe ich dir nicht erzählt, dass wir unter den Dielen seiner Küche eine Leiche gefunden haben?«
»Ja. Aber es stand doch nicht fest, um wen es sich handelt.«
»Mittlerweile besteht kein Zweifel mehr«, sagte Geis. »Der DNA-Vergleich war eindeutig. Außerdem ist bei der Obduktion herausgekommen, dass Wesseling ermordet wurde. Vor vier bis fünf Wochen.«
Und wer hatte ihr dann die E-Mail geschrieben? Sein Geist aus dem Jenseits? Oder waren auch die ersten E-Mails, die man auf Wesselings Computer gefunden hatte, gar nicht von dem früheren Missionar, sondern von jenem Unbekannten verfasst worden?
»Aber das bedeutet ja …«
»… dass Wesseling entweder einen Komplizen hatte oder von jemandem benutzt wurde«, ergänzte Geis. »Und es ist nicht auszuschließen, dass diese Person weiter Zecken aussetzt. In den Texten, die du ja kennst, ist von einer Unterstützergruppe die Rede. Das kann gelogen sein, kann aber auch der Wahrheit entsprechen. Es ist jedenfalls viel zu früh, um Entwarnung zu geben.«
Sollte sie Geis von dem gestrigen Schreiben erzählen? Die Folge wäre wahrscheinlich, dass die Polizei ihre Online-Kontakte komplett überwachen würde, in der Hoffnung, den Absender ausfindig zu machen. Und das Telefon dazu. Schlimmstenfalls musste sie mit einer Totalüberwachung rechnen. Nein, dazu hatte sie keine Lust.
»Heißt das, du bist noch eine Weile im Münsterland beschäftigt?«
»Am Wochenende könnte ich nach Berlin kommen«, schlug Geis vor. »Vorausgesetzt, du hast nichts Besseres vor.«
»Wochenende klingt gut«, sagte Viola. »Ich freue mich auf dich.«
»Also dann!«, sagte Geis, als würde er sich selbst Mut machen. »Bis zum Wochenende!«
Die Kaffeemaschine verröchelte mit einem letzten Schnaufer. Viola schüttete sich eine Tasse ein und ging zum Kühlschrank.
Aus ihrem Arbeitszimmer drang die Synchronstimme von Brad Pitt: »Sie haben E-Mail.«
Liebe Viola,
ich bin nicht enttäuscht über deine Antwort, ganz und gar nicht. Um ebenfalls ehrlich zu sein: Ich habe nichts anderes erwartet. Hättest du freundlich und verständnisvoll reagiert, würde ich davon ausgehen, dass du mir eine Falle stellen willst. So aber hast du aus deinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Recht so. Im jetzigen Stadium unserer Beziehung müssen wir offen miteinander umgehen. Keine Heuchelei, keine Versteckspiele. Das wäre die Ebene der Normalos, über die wir uns inzwischen himmelweit erhoben haben.
Du wirst noch verstehen, warum es keinen leichteren, schmerzfreien Weg gab. Jede neue Entwicklungsstufe, jeder zivilisatorische Fortschritt fordert Opfer, Kollateralschäden, das lässt sich nicht vermeiden. In der Geschichte der Menschheit finden sich dafür viele Beispiele. So bedeutete ihre Entdeckung durch die höherstehende europäische Kultur für Millionen Bewohner Amerikas den Tod. Krieg und Versklavung
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