Fürchte dich nicht!
waren dafür weniger verantwortlich, als gemeinhin angenommen wird. Weitaus häufiger kapitulierte das in Jahrzehntausenden der ethnischen Isolation degenerierte indigene Immunsystem vor den simpelsten Viren, die aus Europa eingeführt worden waren. Infektionen rafften die Indios so schnell dahin, dass die Totengräber mit dem Graben nicht mehr nachkamen. Vergleichbar der Spanischen Grippe, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mehr Menschenleben kostete als der gesamte Weltkrieg zuvor.
Bis heute hat sich – wenn ich richtig informiert bin – noch keine europäische Regierung dafür entschuldigt, dass Bewohner ihrer Länder todbringende Viren in der ganzen Welt verbreiteten. Warum also sollte ich Reue empfinden? Mein Virus ist kein Killer. Manche mögen unter seinen Nebenwirkungen leiden, einige, deren Körper ohnehin geschwächt sind, sogar sterben. Doch den allermeisten erleichtert mein Virus das Leben, es gibt ihnen neue Kraft und Selbstsicherheit, befreit sie von der überflüssigen Angst. So wie dich, Viola.
In zehn Jahren wird niemand mehr von den negativen Seiten des Virus reden. Es wird ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens sein. Und ich – ich werde in Stockholm den Nobelpreis entgegennehmen.
Das ist die Wahrheit, Viola. Ich vertraue auf die Zeit und meine Begabung, die Dinge voranzutreiben. Dein Sträuben ehrt dich. Und mich, der ich den schnellen Erfolg verachte. Doch auch du wirst einsehen, dass es zu alldem keine Alternative gibt. Den ersten, entscheidenden Schritt hast du mit der Aufnahme des Virus bereits vollzogen. Der zweite, die Anerkennung meines Werkes, wird unweigerlich folgen.
Ich bin da. Und bereit, dich zu empfangen.
In Liebe
Deus
Deus? Gott? Was für ein größenwahnsinniges Arschloch, dachte Viola. Redete von Offenheit und benutzte die Legende eines armseligen Missionars aus dem Kongo.
»Wer bist du?«, murmelte Viola. »Wesseling jedenfalls nicht. Der ist tot. Von dir ermordet, oder nicht?«
Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Es war Deus gelungen, sie zu beeindrucken.
40
Ochtrup, Dia-Lab
Geis parkte vor dem ehemaligen Fabrikgebäude in Ochtrup. Das Telefongespräch mit Viola ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war so fahrig gewesen, als hätte er sie bei etwas Wichtigerem gestört. Vielleicht war es ja keine gute Idee, nach Berlin zu fahren.
Unsinn, dachte Geis. Du suchst nur einen Grund, ihr aus dem Weg zu gehen. Reiß dich gefälligst zusammen und finde heraus, wie es um sie steht.
Er stieg die breite Treppe hinauf. Am Vortag hatte er versucht, Eichkorn, den Geschäftsführer von Dia-Lab, zu erreichen, aber in dem Labor, das Arzneimittel für Pharmakonzerne testete, war niemand ans Telefon gegangen. Deshalb hatte sich Geis heute Morgen ins Auto gesetzt.
In den Protokollen, die Mitglieder der Sonderkommission nach Gesprächen mit Eichkorn und den übrigen Beschäftigten von Dia-Lab angefertigt hatten, fand sich kein Hinweis auf einen möglichen Komplizen Rainer Wesselings. Geis zweifelte nicht an den Fähigkeiten seiner Kollegen, manchmal war es allerdings hilfreich, etwas Zeit verstreichen zu lassen und dann dieselben Fragen noch einmal zu stellen. Plötzlich tauchten Namen oder Gesichter in der Erinnerung auf, die zuvor nicht präsent gewesen waren. Nicht etwa, weil sich die Zeugen beim ersten Mal zu wenig bemüht hätten. Es war die Aufregung, von Kriminalbeamten vernommen zu werden, die bei manchen das Gedächtnis blockierte.
An der gläsernen Eingangstür des Labors hing ein mit Klebestreifen befestigter Zettel: Wegen Umstrukturierungsmaßnahmen vorläufig geschlossen.
Das klang nach finanziellen Schwierigkeiten. Etwas überraschend, fand Geis, hatte Eichkorn bei ihrem letzten Besuch doch den Eindruck erweckt, als würde das Geschäft brummen.
Der Hauptkommissar drückte auf die Klingel und hoffte, jemanden bei den Umstrukturierungsmaßnahmen zu stören. Vergeblich. Entweder arbeitete tatsächlich kein Mensch bei Dia-Lab oder die Anwesenden weigerten sich, zur Tür zu kommen. Geis schirmte seine Augen mit der Hand ab und schaute durch das Glas. Er erkannte abgeschaltete Computer und verwaiste Schreibtische. Langsam drehte er sich um. Direkt gegenüber befand sich der Eingang zur Mäuseklinik.
»Sie schon wieder?« Schmitt-Holstenbrock, die Tierärztin, kicherte ängstlich, als Geis vor ihr stand.
»Keine Sorge. Mäuse interessieren mich nicht mehr. Ich wollte zu Ihren Nachbarn auf der anderen Seite des Flurs. Wissen Sie,
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