Fürchte dich nicht!
Eichkorn ist brillant –, sondern auch auf Kooperation. Seine fehlende soziale Kompetenz wurde immer offensichtlicher.«
»Hat er mal Viola de Monti erwähnt? Kannten sich die beiden?«
»Frau de Monti?«, vergewisserte sich der Professor erstaunt. »Nein. Nie. Kann sein, dass sich die beiden auf einem Kongress über den Weg gelaufen sind. Aber es würde mich wundern, wenn sich daraus etwas ergeben hätte. Eichkorn war kein Frauentyp, beileibe nicht. Wieso fragen Sie?«
Geis zögerte. Über die E-Mails, die sie in Wesselings Computer gefunden hatten, war in der Öffentlichkeit nichts bekannt geworden. Aus gutem Grund hielten die Ermittler solche Informationen zurück, da sie damit ein Instrument hatten, den Täter von eventuellen Trittbrettfahrern zu unterscheiden. »Es ist möglich«, formulierte er vorsichtig, »dass sich Eichkorn in Viola de Monti verliebt hat. Bei welcher Gelegenheit und weshalb entzieht sich leider unserer Kenntnis.«
Walter schüttelte den Kopf. »Meiner auch. Nein, wirklich, ich habe keine Ahnung.«
»Ja.« Geis stand auf. »Das war’s schon. Das heißt, eine Frage habe ich noch: Die Wesensveränderung, die die Infizierten durchmachen – wohin wird die führen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir machen Versuche mit Mäusen, nicht mit Menschen. Außerdem benutzen wir keine aktiven Viren als Vektoren. Tatsache ist allerdings, dass genetische Veränderungen und Defekte einen ungeheuren Einfluss auf die menschliche Persönlichkeit haben. Einen sehr viel stärkeren, als man in der Vergangenheit angenommen hat. Kennen Sie das Lesch-Nyhan-Syndrom?«
»Nein.«
»Es wird ausgelöst durch einen Gendefekt und befällt fast ausschließlich Jungen. Im Alter von zwei Jahren fangen sie an, sich selbst zu verletzten. Sie beißen und kratzen sich oder schleudern ihren Kopf gegen die Wand. Wenn sie erwachsen sind, muss man sie fesseln wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer . Denn sobald sie die Gelegenheit erhalten, greifen sie sich selbst an – mit allem, was sie in die Finger kriegen. Und das bei klarem Verstand. Sie wissen, was sie tun, und können ihren inneren Feind doch nicht kontrollieren. Auf der anderen Seite verfügen die Lesch-Nyhan-Patienten über ein gewinnendes Wesen. Sie sind berühmt für ihren Charme.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«, fragte Geis.
»Dass der Charakter eines Menschen manchmal von einem winzigen Baustein abhängt. Das Gen, das als Verursacher des Lesch-Nyhan-Syndroms gilt, besteht aus etwas mehr als vierzigtausend Molekülen. Möglicherweise reicht die Veränderung eines einzelnen Moleküls, um eine komplette Persönlichkeitsstruktur zu gestalten. Und ich könnte Ihnen noch andere Beispiele für genetische Veränderungen nennen: Menschen mit Tourette-Syndrom werfen mit schweinischen Ausdrücken um sich, das Williams-Beuren-Syndrom erkennt man am koboldhaften Aussehen der Betroffenen, die sehr gesellig sind und Musik lieben. Aber auch Infektionskrankheiten stehen in Verdacht, bei Menschen zu schwerwiegenden psychischen Veränderungen zu führen. Das Bornavirus, eigentlich eine Pferdekrankheit, wird seit Langem mit Depressionen und Schizophrenie in Verbindung gebracht, inzwischen untersucht man die Wirkung von Influenzaviren, Borrelien, Streptokokken, Chlamydien und Herpesviren auf die menschliche Psyche.«
Geis’ Handy klingelte. Auf dem Display stand Viola .
Geis entschuldigte sich bei Professor Walter und trat auf den Flur hinaus. »Ja?«
»Was machst du gerade?«
»Ich bin im Institut für Medizinische Epigenetik.«
»Wieso?«
»Erzähl ich dir später. Oder schalt einfach die Nachrichten ein. Goronek wird die Tagesschau nicht verpassen wollen.«
»Heißt das, es gibt etwas Neues?«
»Ja. Aber im Moment …«
»Verstehe. Kommst du trotzdem am Freitag nach Berlin?«
»Sicher. Versprochen ist versprochen.«
»Toll. Ich freue mich. Wirklich. Auch wenn das gestern nicht so geklungen hat. Es gibt nur ein winziges Problem. Ich muss am Sonntagmorgen früh weg. Eine Familienfeier. Meine Tante wird siebzig.«
Warum fiel ihr das erst jetzt ein?
»Ist nicht schlimm«, sagte Geis. »Wir haben ja den ganzen Samstag.«
Als er in Walters Büro zurückkehrte, war der Professor schon wieder in seine Arbeit vertieft und studierte irgendwelche Diagramme.
»Viola de Monti«, erklärte Geis. »Ich besuche sie morgen.«
»Seien Sie vorsichtig!« Walter blickte auf. »Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.«
43
Berlin, Wilmersdorf
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