Fürchte dich nicht!
hatte das Gespräch abgebrochen. Die Psychologin war nicht mehr zu ertragen. Dieses Pferdegebiss, das nach jeder Frage zu einem künstlichen Lächeln gebleckt wurde. Diese weit aufgerissenen, Verständnis heuchelnden Augen, deren Blicke wie Saugnäpfe an ihr klebten. Dieses ewige Nicken, sobald sie eine Antwort gab, als könne sie ohne positive Verstärkung keine grammatikalisch sauberen Sätze herausbringen.
Wahrscheinlich lernte man so etwas bei der Ausbildung zur Gesprächstherapeutin. Mehrfach wöchentlich in den Genuss der Grimassen und berufsbedingten Ticks zu kommen, war jedoch unsäglich, eine Art von psychischer Folter. Am liebsten hätte Viola der Frau die Zähne ausgeschlagen und in den Hals gestopft. Den verständnisvollen Blick mit beiden Daumen weggedrückt, das Nicken mit einem sauberen Würgegriff gestoppt.
Aber das durfte sie natürlich nicht sagen. Nicht mal andeuten. Das wäre für die Psychologen, Psychiater, Neurologen, die sich Tag für Tag mit ihr beschäftigten, eine Steilvorlage gewesen. Man würde sie entmündigen, ihr die Bürgerrechte rauben, sie in eine geschlossene Anstalt einweisen. Um die Doktorspiele ungestörter treiben zu können. Dann würden sie sich nicht länger mit Kernspintomografien und Elektroenzephalogrammen abgeben, sondern könnten gleich die Schädeldecke aufsägen und nachsehen, was das Virus in ihrem Gehirn anstellte.
Nein, Viola hatte keine Drohungen ausgestoßen und die Psychologin nicht angerührt. Sie war aufgesprungen, das schon, hatte den Stuhl umgestoßen, auf dem sie stundenlang hatte sitzen müssen, war hinausgerannt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Sie war schlicht und einfach ausgerastet. Professionelles Verhalten sah anders aus.
Und trotzdem fühlte sie sich gut. Sie hatte diesen Idioten gezeigt, dass sie nicht alles mit sich machen ließ. Das war es wert gewesen. Auch wenn seitdem ständig das Telefon klingelte. Sollte es klingeln. Sie war nicht zu sprechen.
Und jetzt auch noch die Türglocke. Verdammt!
Viola ging zur Sprechanlage neben der Wohnungstür. »Wer ist da?«
»Heiner. Heiner Stegebach.«
»Was willst du?«
»Mit dir reden. Wegen deines Verhaltens heute. In deinem eigenen Interesse, Viola.«
Sie drückte auf den Türöffner.
Er zeigte einen besorgten Gesichtsausdruck, ganz der gefühlvolle Ex. »Warum bist du abgehauen?«
»Weil ich keinen Bock mehr hatte.«
»Und warum gehst du nicht ans Telefon? Wieso verschanzt du dich in deiner Wohnung?«
»Weil ich noch weniger Bock habe, darüber zu reden.«
»Das kannst du nicht machen. Wir haben einen Deal.«
Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Du glaubst gar nicht, wie mir das auf die Nerven fällt. Diese ewigen Intelligenz-, Gefühls-, Reaktions-, Was-weiß-ich-für-Tests. Die behandeln mich, als hätte ich einen Sockenschuss. Dabei bin ich bei klarem Verstand. Ich möchte endlich wieder meine Arbeit machen. Keine Fragen mehr beantworten oder die durch mein Gehirn fließenden Gammawellen messen lassen.«
»Aber genau das ist im Moment am wichtigsten. Die Arbeit im Institut läuft auch ohne dich. Begreifst du nicht, um was es hier geht, Viola? Wir müssen wissen, wie sich die Krankheit entwickelt.«
»Ich bin nicht krank.«
»Dann eben die Auswirkungen der Infektion auf die Psyche. Ihr seid eine Gefahr für die Gesellschaft. Der Staat hat ein Recht, euch zu kontrollieren.«
»Heißt das, alle Infizierten gelten als kriminell?«
»Stell dich nicht blind, Viola! Einige Infizierte sind bereits zu Mördern geworden, andere, die extrem aggressives Verhalten zeigten, hat man zu ihrem eigenen Schutz inhaftiert. Wiederum andere stehen unter ständiger Beobachtung. Das kann dir auch blühen, wenn du nicht kooperierst.«
Sie lachte heiser. »Du willst mir drohen?«
Er zog eine beleidigte Schnute. »Ich bitte dich, Viola!«
»Du kleiner Scheißer willst mir drohen?«
Sein Kopf lief rot an. »Sei doch vernünftig, Viola!«
»Raus!« Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. Nicht fest, aber auf die Stelle am Solarplexus, an der es besonders wehtat.
Er zuckte zurück. »Du bringst dich in große Schwierigkeiten …«
»Raus!«
Er rannte zur Tür.
44
Berlin, Wilmersdorf
Jemand kam ihm entgegen, eilte in großen Sätzen die Treppe herunter. Geis sah zuerst den roten Kopf und dann die verkniffenen Gesichtszüge. Heiner Stegebach, Violas Ex. Was machte der denn hier?
Stegebach verlangsamte seine Schritte, öffnete zweimal den Mund wie ein Fisch, der überraschend
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