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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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aufzuhalten.«
    River erwiderte darauf nichts, sondern nahm mir den Picknickkorb ab.
    »Na gut«, gab ich schließlich nach. Ich hatte kein großes Problem damit, gegen die Friedhofsvorschriften zu verstoßen, weshalb es ziemlich einfach war, mich zu überzeugen. »Er liegt sowieso mehr oder weniger auf unserem Nachhauseweg.«
    Echo hatte einen wunderschönen Friedhof. Groß und ehrwürdig mit hohen alten Bäumen und ein paar Grüften, von denen eine der einst wohlhabenden und angesehenen Familie White gehörte. Ich war selten dort, obwohl es eigentlich meine Pflicht gewesen wäre, weil Freddie dort begraben lag. Der Friedhof erstreckte sich über einen dem Meer zugewandten Hügel und seine Aussicht machte der von Citizen Kane Konkurrenz. Es war ein Ort, an dem jemand wie Edgar Allan Poe sicher gern verwesen würde … inmitten feuchtgrüner Blätter und glitzernder Sternenstille.
    Der Friedhof war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, und ich rechnete fest damit, dass das Tor abgeschlossen sein würde, aber es stand sperrangelweit offen. Wir gingen hinein, und River stellte den Picknickkorb neben dem ersten Grabstein ab, an dem wir vorbeikamen. Dann griff er nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen, und meine Haut prickelte an den Stellen, an denen River mich berührte.
    »Ich mag dich, Violet«, sagte er leise.
    »Du kennst mich gar nicht«, antwortete ich.
    River sah mich mit seinem kleinen schiefen Lächeln an, das mir immer vertrauter wurde. »Doch. Ich brauche nur zwei Minuten, um alles über einen Menschen zu erfahren, was ich wissen muss. Und wir beide haben schon Stunden miteinander verbracht.« Er schien einen Moment lang nachzudenken. »Du bist achtsam«, fuhr er schließlich fort, »aufmerksam, einfühlsam. Ehrlicher als die meisten Menschen. Du verabscheust Rücksichtslosigkeit, bist aber selbst unbeherrscht, wenn du es für angebracht hältst. Du hasst deinen Bruder und liebst ihn gleichzeitig mehr als alles andere auf der Welt. Du wünschst dir, dass deine Eltern nach Hause kommen, aber du hast gelernt, ohne sie zu leben. Du bist ein friedliebender Mensch, zugleich aber gnadenlos, wenn jemand zu weit geht.«
    Er drückte meine Hand so fest, dass es beinahe wehtat. »Aber was mir am besten an dir gefällt – und was dich von allen anderen unterscheidet –, ist, dass du nichts von mir verlangst. Absolut gar nichts.«
    »Ist das so?«
    »Ja. Und das ist … erholsam.«
    Ich sagte dazu nichts. Wahrscheinlich hätte es mich nervös machen sollen, dass River schon so viel über mich wusste. Aber ich nahm es einfach hin und versuchte es zu genießen.
    Wir stiegen eine kleine Anhöhe hinauf und blieben vor der Gruft der Glenships stehen. Sie war mit Efeu überwuchert und so alt, dass man jeden Augenblick damit rechnen musste, dass die Steine krachend auseinanderfielen und einen Berg Knochen freilegten. Eine Wolke schob sich vor den Mond und es wurde stockfinster. Ich sah nichts mehr – noch nicht einmal River. Aber ich spürte ihn neben mir. Hörte ihn atmen. Fühlte die Hitze seines Körpers …
    Irgendetwas Hartes schlug plötzlich gegen meinen Rücken. Ich schnappte nach Luft, fiel zu Boden, rollte mich herum, und auf einmal waren Schatten auf mir, fielen über mich her, griffen nach mir –
    » River! «, rief ich. Kalte Hände umklammerten meine nackten Beine, pressten sich auf meinen Bauch. »Großer Gott, wer … was …«
    »Keine Angst, Vi, alles ist gut. Das sind bloß Kinder. Bloß eine Horde Kinder.«
    Ich hörte auf, mich unter den Händen zu winden, und blieb ganz still liegen. Dann hielt ich den Atem an und öffnete vorsichtig die Augen. Über mir teilten sich die Wolken. Der Mond schien zwischen ihnen hindurch und ich sah drei Jungs. Ihre Gesichter waren gespenstisch weiß. Und wütend. Sie starrten mich feindselig an, schwaches Mondlicht streifte ihre Wangen. Sie sahen düster und grausam aus, überhaupt nicht wie Kinder.
    Ich spürte, wie sich in meiner Kehle ein Schrei bildete, den ich aber nicht loslassen wollte. Ich war niemand, der schrie, weigerte mich, zu schreien. Schreien war etwas, das Sunshine und andere Mädchen taten, nicht ich.
    Ein weiteres weißes Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf und beugte sich über mich, um mich forschend zu betrachten. Ein Gesicht, das ich kannte. Es gehörte einem der Jungen aus dem Park. Dem, der eigentlich zu jung war, um Kaffee zu trinken, so wie ich damals. Anstelle des Jojos hielt er jetzt ein aus zwei Zweigen

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